Halo
meinem Gurt schmerzhaft in den Sitz zurückgeworfen. Das Motorrad heulte die Straße herunter und zog eine Wolke aus Abgasen hinter sich her. Xavier starrte ihm sprachlos nach, bevor er sich hektisch nach mir umdrehte. Erst als er sicher war, dass ich unversehrt war, machte er seiner Wut Luft.
«Was zum Teufel war das denn?», tobte er. «Was für ein Idiot! Hast du den Fahrer erkannt? Wenn ich jemals herausfinde, wer das war, wird sein Kopf Bekanntschaft mit einem Laternenpfahl machen!»
«Es war schwer, unter dem Helm sein Gesicht zu erkennen», sagte ich ruhig.
«Das kriegen wir schon heraus», knurrte Xavier. «Es gibt hier in der Gegend nicht so viele Yamaha V Star 250 .»
«Woher kennst du das Modell?», fragte ich.
«Ich bin ein Kerl. Wir mögen Motoren.»
Xavier fuhr mich nach Hause, wobei er jedes vorbeifahrende Auto misstrauisch musterte, als ob sich der Unfall wiederholen könnte. Als wir vor Haus Byron hielten, schien er sich ein bisschen beruhigt zu haben.
«Ich habe Limonade gemacht», sagte Ivy, als sie die Haustür öffnete. Mit ihrer Schürze sah sie so häuslich aus, dass wir beide grinsen mussten. «Warum kommst du nicht mit rein, Xavier?», fragte sie. «Du kannst deine Hausaufgaben mit Bethany zusammen machen.»
«Oh, äh, danke, aber ich habe meiner Mutter versprochen, ein paar Dinge für sie zu erledigen», wich Xavier aus.
«Gabriel ist nicht da.»
«In diesem Fall – gern, danke.»
Phantom stürmte aus der Küche, als er unsere Stimmen hörte, und stieß zur Begrüßung gegen unsere Beine.
«Zuerst die Hausaufgaben, dann Gassi gehen», sagte ich.
Wir breiteten unsere Bücher auf dem Esszimmertisch aus. Xavier musste ein Referat für Psychologie vorbereiten, und ich musste für Geschichte eine politische Karikatur analysieren. In der Karikatur stand König Ludwig XVI . neben einem Thron und sah aus, als wäre er sehr zufrieden mit sich. Meine Aufgabe war es, die Bedeutung der Gegenstände, die ihn umgaben, zu interpretieren.
«Wie nennt man das Ding, das er in der Hand hält?», fragte ich Xavier. «Ich kann es nicht richtig erkennen.»
«Für mich sieht es aus wie ein Schürhaken», sagte Xavier.
«Ich bezweifele, dass Ludwig XVI . das Feuer selbst angeschürt hat. Ich glaube, es ist ein Zepter. Und was trägt er?»
«Mmm … einen Poncho?», schlug Xavier vor.
Ich verdrehte die Augen.
«Mit deiner Hilfe kriege ich garantiert Topnoten.»
In Wahrheit interessierten mich die Hausaufgaben, die ich zu erledigen hatte, und meine Noten nicht im Geringsten. Das, was ich lernen wollte, stand nicht in Schulbüchern, ich lernte es durch eigene Erfahrungen und Begegnungen. Aber Xavier war auf seine Psychologiearbeit konzentriert, und ich wollte ihn nicht noch mehr ablenken. Also senkte ich den Kopf und starrte auf meine Karikatur. Dieser Anfall von Konzentration hielt jedoch nur außerordentlich kurz an.
«Wenn du irgendetwas in deinem Leben rückgängig machen könntest, was wäre das?», fragte ich und kitzelte Phantom mit dem puscheligen Ende meines Stiftes an der Nase. Er nahm den Stift zwischen die Zähne, wahrscheinlich hielt er ihn für eine Art kleines Pelztier, und stolzierte siegreich davon.
Xavier ließ seinen Stift sinken und sah mich fragend an. «Du meinst nicht vielleicht: Was ist die unabhängige Variable im Stanford-Prison-Experiment?»
«Gähn», sagte ich.
«Ich fürchte, manche von uns sind nicht mit göttlicher Weisheit gesegnet.»
Ich seufzte. «Ich kann nicht glauben, dass dich dieses Zeug wirklich interessiert.»
«Tut es auch nicht. Aber ich habe keine andere Wahl, Beth», sagte er. «Ich muss aufs College gehen und einen vernünftigen Beruf lernen, wenn ich im Leben Erfolg haben möchte – das ist die Realität.» Er lachte. «Na ja, vermutlich nicht deine Realität, aber todsicher meine.»
Darauf hatte ich keine Antwort. Bei der Vorstellung, dass Xavier älter werden und Tag für Tag bis zum Ende seines Leben die gleiche Arbeit machen würde, um seine Familie zu ernähren, hätte ich am liebsten geweint. Ich wollte, dass er ein leichtes Leben hatte, und ich wollte, dass er es mit mir verbrachte.
«Das tut mir leid», sagte ich leise.
Er schob seinen Stuhl näher zu mir. «Braucht es nicht», sagte er. «Besser ist das hier …» Er beugte sich vor und küsste mein Haar, bevor sein Mund nach unten wanderte, bis er mein Kinn und schließlich meine Lippen fand.
«Ich würde am liebsten meine ganze Zeit damit verbringen, mit dir zu reden, mit
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