Halo
aufkommenden Wind umgeschlagen.
«Kommst du?», fragte Xavier.
«Lass uns hierbleiben und eine Weile dem Regen zusehen. In Literatur ist im Moment ohnehin nicht so viel los.»
«Höre ich da die böse Beth sprechen?»
«Ich glaube, wir müssen mal deine Definition von ‹böse› diskutieren. Kann ich nicht diese eine Stunde bei dir bleiben?»
«Damit mich dein Bruder beschuldigt, ich hätte einen schlechten Einfluss auf dich? Nie im Leben. Ach übrigens, ich habe munkeln hören, dass es einen Neuen gibt, einen Austauschschüler aus London. Ich glaube, er ist in deinem Literaturkurs. Macht dich das neugierig?»
«Nicht wirklich. Ich habe hier alles, was ich brauche.» Ich strich mit den Fingern über Xaviers Kinn und fuhr seine weichen Konturen nach.
Xavier löste meine Finger und küsste die Fingerspitzen, bevor er sie mir nachdrücklich in den Schoß zurücklegte. «Hör zu, der Knabe könnte in deinen Aufgabenbereich fallen. Wie ich gehört habe, ist er schon von drei Schulen geflogen und ist hierher geschickt worden, um wieder auf die rechte Bahn zu kommen. Ich schätze, weil wir hier weit genug weg von allem sind, was ihn in Schwierigkeiten bringen könnte. Sein Dad ist irgendein Medienmogul oder so etwas. Jetzt interessiert?»
«Vielleicht – ein bisschen.»
«Dann auf zum Unterricht. Sieh ihn dir mal an. Vielleicht kannst du ihm helfen.»
«Okay, Xavier, ich trage schon schwer genug, da brauchst du mir nicht noch ein Problem aufzubürden», antwortete ich etwas patzig.
Xavier lächelte nur. «Ich liebe dich.»
Wenn ich später auf diesen Tag zurückblickte, erinnerte ich mich an den Regen und an Xaviers Gesicht. Der Wetterumschwung markierte auch eine Veränderung in unserem Leben: eine, die keiner von uns hatte kommen sehen. Bis dahin war mein Dasein auf der Erde von kleinen Dramen und Teenager-Ängsten erfüllt gewesen, aber ich musste bald lernen, dass diese Schwierigkeiten Kinderkram waren im Vergleich zu dem, was danach geschah. Ich glaube, es lehrte uns viel über das, was im Leben wichtig war. Wir hätten es nicht verhindern können, es war von Anfang an Teil unserer Geschichte. Eigentlich waren wir darauf vorbereitet gewesen, dass der Schlag uns irgendwann treffen würde. Wir hatten ihn bloß nicht gleich so heftig erwartet.
Der Schlag kam den weiten Weg aus England und hatte einen Namen: Jake Thorn.
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18 Dunkler Prinz
Auch wenn Literatur mein weitaus interessantester Kurs war, stand mir nicht der Sinn danach. Ich wollte mehr Zeit mit Xavier verbringen. Von ihm getrennt zu sein verursachte mir jedes Mal körperlichen Schmerz, wie ein Krampf in der Brust. Als wir am Klassenzimmer ankamen, drückte ich seine Hand fester und zog ihn an mich. Egal, wie viel Zeit wir miteinander verbrachten, es schien nie genug zu sein – ich wollte immer noch mehr. Was ihn betraf, verspürte ich einen Heißhunger, der nie gestillt werden konnte.
«Es wird schon nicht so schlimm sein, wenn ich ein paar Minuten zu spät komme», versuchte ich ihn zu überreden.
«Keine Chance», sagte Xavier und löste meine Finger, die sich jetzt in seinem Hemdsärmel vergruben. «Du wirst pünktlich sein.»
«Du bist eine richtige Gouvernante geworden», murrte ich. Er ignorierte meinen Kommentar und drückte mir die Bücher in die Arme. In letzter Zeit durfte ich selten etwas länger tragen als unbedingt notwendig. Auf alle anderen musste ich unglaublich faul wirken: Immer hatte ich Xavier an meiner Seite, der diensteifrig meine sämtlichen Habseligkeiten trug.
Bevor er mich aufhalten konnte, hatte ich ihm die Arme um den Hals gelegt und ihn in einen Winkel zwischen den Spinden gezogen. Es war wirklich seine Schuld, was stand er auch so da mit seinem weichen Haar, das ihm über die Augen fiel, seinem Schulhemd, das halb aus der Hose hing, und dem geflochtenen Lederband an seinem leicht gebräunten Handgelenk, das aussah, als wäre es ein Teil von ihm. Wenn er nicht von mir aufgefressen werden wollte, dann hätte er sich mir nicht in den Weg stellen sollen.
Xavier ließ seine Bücher fallen und küsste mich stürmisch zurück. Seine Hände hielten meinen Nacken, sein Körper war gegen meinen gepresst. Die wenigen Schüler, die noch zum Unterricht eilten, starrten uns ungeniert an.
«Habt ihr kein Zuhause?», fragte jemand hinter uns, aber ich ignorierte es. In diesem Moment existierten weder Zeit noch Raum – es gab nur uns beide in unserer ganz privaten Dimension, und ich wusste nicht
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