Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
über meine grässliche Hypothese nachzudenken. Um mich zu beruhigen, verlegte ich mich auf einen stummen Singsang: Jetzt schlafen. Morgen weitermachen.
Es funktionierte nicht. Meine Gedanken sprangen von Thema zu Thema. Immer wieder sah ich die Schläuche und die Gerätschaften, die Pete am Leben hielten. In Gedanken wischte ich noch einmal Annes Küchenboden, stellte mir vor, wie mir die Tränen von den Wangen tropften und sich mit seinem Blut vermischten. Mit einem kalten Schauer dachte ich daran, Katy vielleicht sagen zu müssen, dass ihr Vater tot sei. Wo war Katy überhaupt?
Ich erinnerte mich an meinen letzten Anruf bei Emma, und mir graute schon jetzt vor dem schrecklichen Gespräch, das ich würde führen müssen, wenn ihre Schwester aus Italien zurückkehrte.
Ich dachte an Gullet. War seine Haltung mir gegenüber von Widerstand geprägt oder nur von Gleichgültigkeit?
Ich dachte an Dupree und seine Drohungen. Waren es wirklich nur Drohungen? Wozu war er tatsächlich imstande? Alle Bauunternehmer beklagten sich bei ihren Freunden in der Regierung über Archäologen, die den Fortschritt verhindern.
Gesichter blitzten mir in endlosen Spiralen durchs Hirn. Pete. Emma. Gullet. Dupree. Lester Marshall. Corey Daniels. Adele Berry. Lonnie Aikman. Die entstellten Züge von Unique Montague. Der fleischlose Schädel von Willie Helms. Und wieder Pete.
Die Ziffern auf dem Wecker neben dem Bett leuchteten orange. Draußen rollte der Ozean, ein leises, murmelndes Rauschen. Minuten vergingen. Eine Stunde. Ryans Körper neben mir wirkte auch nicht entspannt. Seine Atmung klang nicht so regelmäßig, als würde er schlafen.
Mit Ryan über meinen schrecklichen Verdacht reden?
Nein. Warte. Du musst erst noch mehr wissen. Du musst ganz sicher sein.
»Bist du wach?«, flüsterte ich leise.
»Hm.«
»Denkst du an Lily?«
»Unter anderem.« Ryans Stimme klang heiser.
»Woran sonst noch?«
»Cruikshanks Code.«
»Du hast ihn geknackt?«
»Abgesehen von der Helms-Akte, glaube ich, dass es vorwiegend Initialen, Daten und Zeiten sind.«
»›C‹ bedeutet closed. « Abgeschlossen.
»Was für eine Erkenntnis.«
Ich jagte Ryan den Ellbogen in die Rippen.
»CD ist Corey Daniels. AB Adele Berry. LM Lester Marshall. Bei ein paar anderen bin ich mir nicht so sicher. Die Daten sind offensichtlich. Ich glaube, die Zahlen hinter den Initialen bezeichnen die Zeiten, wann die entsprechende Person die Klinik betrat oder verließ.«
»So einfach?«
»Da steckt noch mehr dahinter, aber ich glaube, im Wesentlichen registrierte Cruikshank, wann die Leute kamen oder gingen.«
»Nur das Personal?«
»Ich glaube, einige waren Patienten. Helms ist eine andere Geschichte. Diese Notizen müssen eher mit Recherche als mit Observation zu tun haben, da Helms verschwand, bevor Cruikshank engagiert wurde, um Helene zu finden.«
»Wenn Cruikshanks System wirklich so einfach ist, warum konnte Pete es dann nicht knacken?«
Noch vor wenigen Stunden hätte Ryan eine solche Gelegenheit für einen Seitenhieb nicht ausgelassen. Jetzt reagierte er völlig anders. »Als Pete sich den Code vornahm, kannte er die Namen des Klinikpersonals noch nicht. Oder Willie Helms’ Namen. Wie spät ist es?«
Ich schaute zum Wecker. »Zehn nach drei.«
»Ist egal. Ich glaube nicht, dass uns die Notizen sonderlich weiterbringen.« Ryan zog mich an sich. »Bist du müde?«
»Ich bin nicht in der Stimmung, Ryan.«
»Ich dachte an Cruikshanks Computer.«
»Gullet will ihn morgen zurück haben.«
»Willst du noch einen letzten Versuch mit dem Passwort wagen?«
»Ja.« Und da war noch etwas, das ich nachprüfen wollte. Konnte es tatsächlich sein?
»Hast du Cruikshanks Dienstnummer irgendwo gefunden?«, fragte eben Ryan.
»Es gibt eine Marke, aber die Polizei von Charleston nummeriert die nicht.«
»Hatte Cruikshank noch irgendwelche anderen Polizeiutensilien aufbewahrt? Pistolenhalfter? Handschellen? Einen Handschellenschlüssel?«
»Ja. Warum?«
»Im Gegensatz zu unserem glamourösen öffentlichen Image sind wir Polizisten nicht alle so komplex. Alter Bullentrick: Benutze deine Dienstnummer als Passwort. Alter Bullentrick: Ritze die Dienstnummer in deine Utensilien ein.«
In neuer Rekordzeit rasten Boyd und ich die Treppe hinunter. Ryan folgte in einem etwas würdevolleren Tempo. Als er dann zu uns kam, war ich bereits fündig geworden.
»Neben dem Schlüsselloch sind Ziffern eingeritzt.« Ich warf Ryan die Handschellen zu, rannte zum Schreibtisch,
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