Hals über Kopf: 9. Fall mit Tempe Brennan
klappte den Laptop auf und fuhr ihn hoch. »Lies sie ab.«
Ryan tat es. Ich tippte sie ein. Schwarze Punkte erschienen in dem kleinen, weißen Fenster, dann baute sich der Windows-Desktop auf dem Monitor auf.
»Wir sind drin!«
»Zuerst die Mailbox?«, fragte Ryan.
Zehn Minuten lang durchsuchte ich den Computer.
»Der PC ist für einen drahtlosen Netzzugang ausgestattet, aber es gibt keine E-Mail. Ich bezweifle, dass das Magnolia Manor einen Anschluss hat, deshalb benutzte er wahrscheinlich Cafés und Bibliotheken, um sich einzuloggen. Da sind hunderte von Downloads drauf. Du kannst ebenso gut wieder ins Bett gehen.«
»Bist du sicher?«
»Das hier wird eine Weile dauern.«
Ryan küsste mich auf den Kopf. Ich hörte Schritte auf dem Teppich, dann auf der Treppe. Boyd blieb zu meinen Füßen liegen.
Alles verschwand aus meinem Bewusstsein bis auf das schwache Leuchten des PC-Monitors eines Toten. Annes Panoramafenster dahinter war ein glänzend schwarzes Glasrechteck. Während ich Datei um Datei las, bildete sich in meinen Eingeweiden ein harter Knoten.
Als ich mich schließlich zurücklehnte, war das Fenster grau geworden, und der riesige Atlantik tauchte aus dem frühmorgendlichen Nebel auf.
Die Jagd nach Erklärungen war vorbei.
Meine Vermutung war zutreffend gewesen. Jetzt wusste ich Bescheid. Und die Realität war so grausam, wie ich es mir vorgestellt hatte. Aber das musste jetzt noch warten.
Ich hatte zuerst meine eigene Realität zu bewältigen. Ich rief auf der Intensivstation an. Keine Veränderung. Keine offensichtliche Verbesserung, aber immerhin war Pete stabil.
Sollte ich es noch einmal bei Katy probieren? Zwecklos. Sie würde meine Nachricht erhalten, sobald sie ihr Handy einschaltete. Wenn nicht, dann würde ich beim nächsten Versuch eine weitere Nachricht hinterlassen. Falls ich in den nächsten Stunden nichts von ihr hörte, würde ich in der Universität anrufen und mich erkundigen, ob man dort etwas über ihren Verbleib wusste.
Ich streckte mich auf der Couch aus.
31
»Bist du wach?«, flüsterte ich.
»Jetzt schon.«
»Die Leute werden wegen ihrer Organe ermordet.«
»Aha.« Ryan streckte die Hand aus. Ich nahm sie.
»Cruikshank hatte es herausgefunden.«
Ryan stützte sich auf einen Ellbogen. Seine Haare waren verstrubbelt, die Babyblauen noch trüb von Schlaf.
»Der Gedanke schoss mir auch schon durch den Kopf, erschien mir jedoch so weit hergeholt, dass ich ihn gar nicht erst erwähnte.«
»Es stimmt aber.«
»Ein betäubter Reisender, der in einer Badewanne voller Eis aufwacht? Ein College-Student, der nach einer wilden Party eine Naht am Körper findet?« Ryan klang mehr als skeptisch. »Gerüchte über Organdiebstahl machen seit Jahren die Runde.«
»Worüber Cruikshank gestolpert ist, ist viel schlimmer als ein urbaner Mythos. Die Leute werden erdrosselt, Ryan. Und dann schneidet man ihnen die Organe heraus.«
»Das gibt’s doch gar nicht.«
Ich zählte die Punkte an den Fingern ab. »Vermisste, die aus unerklärlichen Gründen tot aufgefunden werden. Skelette mit Schnittspuren.« Ryan wollte etwas sagen, doch ich zählte einfach weiter auf. »Schnittspuren vereinbar mit Skalpellschnitten. Ein halbseidener Arzt hier in den USA, mit einem Kommilitonen, der spurlos verschwunden ist. Eine mysteriöse Kurklinik in Mexiko.«
Ryan richtete sich auf und klemmte sich das Kissen hinter den Kopf. »Zeig’s mir.«
Ich kroch unter die Decke, setzte mich mit überkreuzten Beinen auf, öffnete Cruikshanks Laptop und stellte ihn mir auf die Fußknöchel.
»Cruikshank hat sich sehr intensiv mit Transplantation, Organschwarzhandel, Charlestoner Vermissten und einer Institution namens Abrigo Aislado de los Santos in der Nähe von Puerto Vallarta beschäftigt.«
»Die mexikanische Kurklinik aus dem Prospekt.«
»Ja«, schnaubte ich. »Offensichtlich die Klinik überhaupt, falls jemand Geld hat und schnell und unbürokratisch ein neues Organ braucht.«
Ich kaute auf einem Nagelhäutchen herum und überlegte, wie ich Ryan mit knappen Worten das erklären sollte, was auch ich eben erst zu verstehen begann.
»Seit Anfang der Fünfziger sind Transplantationen relativ häufig. Eine Niere oder der Teil einer Leber kann von einem Lebendspender geliefert werden, sogar ein einzelner Lungenflügel, auch wenn das nur sehr selten vorkommt. Ein Herz, Hornhäute, eine komplette Lunge oder eine Bauchspeicheldrüse müssen von Spenderleichen stammen.
Das Problem ist, dass nicht genügend
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