Halsabschneider. Kadir Bülbüls erster Fall
beäugte, dass
ihr Baby zu wenig verdiente in diesen Ausbeuterhotels, um sich eine anständige
Ausstattung leisten zu können. Und so machte sie sich an die Arbeit und bedeckte
die Böden des Hauses nach und nach mit selbst gefertigten Teppichen, hängte
bestickte Wandbilder auf und ließ unzählige Familienfotos sowie Kadirs
Zeugnisse und Diplome rahmen, um die kahlen Wände zu schmücken. Kadir stand mit
Hammer und Nägeln bewaffnet in seinem Wohnzimmer und Latife kommandierte: Höher,
bebegim, da kommt es nicht gut zur Geltung, und nun noch ein bisschen mehr
rechts! Wenn er abends in sein Haus kam, hörte er ihre Stimme, als käme sie
aus einem Lautsprecher neben der Tür, eine Stimme, die ihn mahnte, dass er
seine Schuhe ausziehen sollte, denn wenn sie schon bei ihm saubermachte, dann
sollte er gefälligst ein bisschen aufpassen, dass sie ihren steifen Rücken
nicht zu sehr krümmen musste. Nicht wahr?
Es
war trotz oder gerade wegen der Einmischung seiner Mutter ganz sein Haus, sein
Refugium geworden. Ging er morgens zur Arbeit, saßen die alten Frauen aus der
Nachbarschaft schon rechts und links vor ihren Häusern und grüßten ihn,
knackten Sonnenblumenkerne, schlürften ihren Tee und riefen ihm laut lachend
hinterher, wie sehr sie es bedauerten, dass er arbeiten müsste und nicht den
ganzen Tag bei ihnen sitzen könnte, um sie zu unterhalten. Saß er in der Küche
oder auf dem Dach, las Zeitung oder starrte in den Himmel, hörte er die
Kinderstimmen vor dem Haus wie eine ewige Hintergrundmusik, die beruhigend in
einer Endlosschleife tagein, tagaus sein Dasein untermalte, beruhigend und auf
seltsame Weise die dreißig Jahre wegzaubernd, die ihn von dieser Generation
Kinder, die sich in den Gassen tummelte, trennte.
» Bebegim ,
rate, wen ich heute zum Essen eingeladen habe!«
Kadir
stellte das Glas ab und sah seine Mutter an. Während er gedankenverloren seinen
Tee getrunken hatte, war sie stumm in der Küche hin- und hergehuscht, hatte in
den Ofen geschaut, den Spüllappen ausgewrungen, Teller eingeräumt, den
überquellenden Kühlschrank inspiziert. Sie hatte ihm einige Minuten Ruhe
gegönnt, war trotz ihrer Leibesfülle ihren Betätigungen ohne irgendein Geräusch
nachgegangen, und die Stille in der Küche hätte Kadir stutzig machen müssen.
Nun saß sie ihm gegenüber, die Ellbogen aufgestützt, die Finger ineinander
verknotet und lächelte ihn verschmitzt an.
»Oh, anne , schon wieder eine Frau? In den zwei Jahren, in denen wir jetzt
wieder in der Türkei leben, hast du mir schon – wie viele? – ein Dutzend Frauen
präsentiert, ich kann mich kaum noch erinnern, wann wir einen Abend für uns
hatten. Als wir noch in Köln lebten, hast du mir nie irgendein Mädchen
vorgeführt, hier scheinst du einen richtigen Heiratsvirus erwischt zu haben.
Kommt das von deiner Nachbarin?«
»Iss,
bebegim, du bist zu dünn. Und kein böses Wort gegen Hatun teyze , sie ist eine ehrwürdige Frau und eine
wunderbare, hilfsbereite Nachbarin.«
Latife
Bülbül schob ihrem Sohn einen Teller mit sarma und dolma zu.
»In
Köln warst du noch ein richtiges Baby, viel zu jung zum heiraten...«
»...
ich war 33 Jahre, als wir nach Dereköy kamen!«
»...
und wir hatten sehr wohl Abende, an denen ich niemanden eingeladen habe.«, fuhr
Latife seelenruhig fort. »Als deine Schwestern hier waren, nur als Beispiel,
ach, Kadir, da fällt mir ein, willst du nicht noch einmal mit ihnen reden, dass
sie auch nach Dereköy ziehen, dann wären wir alle wieder zusammen? Und die
kleinen Enkelchen! Müssen ganz ohne ihre nene aufwachsen, die armen
kleinen Dinger, wie Waisenenkel, man stelle sich dieses Unglück vor! Oh weh!«
Es
war eine Klage, die seine Mutter mehrmals am Tag anstimmte und auf die sie
weder von ihrem Mann noch von ihrem Sohn Resonanz erwartete. Die als
Waisenenkel bezeichneten Kinder seiner ältesten Schwester Aylin waren längst
keine kleinen Enkelchen mehr, sondern gingen beide bereits aufs Gymnasium, und
Sevda, Anwältin für Strafrecht mit eigener Kanzlei, zwei Jahre älter als er,
hatte immer freundlich lächelnd den Kopf geschüttelt, wenn seine Mutter nach
ihren Heirats- und Nachwuchsplänen fragte. - Sevda, was ist los mit dir?
Willst du nicht, dass etwas von dir bleibt auf der Welt, willst du denn gar
keine Freude in deinem Leben haben, willst du, dass dein Leben sinnlos bleibt?
- Sevda hatte ihrem Bruder zugezwinkert und dann die Aufmerksamkeit der
Mutter auf ihn gelenkt. – Von mir bleibt genug auf der Welt:
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