Halskette und Kalebasse
Tuschestein, ein Stück schwarzer Tintenmasse und einen röhrenförmigen Halter mit ein paar Schreibpinseln zurückgelassen. Der Richter stellte fest, daß der Empfangstisch rechts von dem hohen Schemel des Kassierers zwei Schubladen enthielt. Er zog die obere heraus. Darin befanden sich das Gästeverzeichnis der Herberge, ein Gefäß mit der dicken braunen Gummilösung, die Kassierer zum Zusammenkleben von Rechnungen verwenden, ein Holzstempel mit dem Aufdruck >Zahlung erhalten< und das dazugehörige rote Siegelkissen sowie ein Päckchen unbeschriebener Blätter und Umschläge. Rasch öffnete er die zweite Schublade. Ja, neben dem Abakus lagen ein roter Tuschestein und ein kleines Stück roter Tintenmasse. Dann waren da noch ein Wasserbehälter zum Anfeuchten des Tuschesteins und ein roter Pinsel. Und außerdem eine flache Geldkassette, die natürlich leer war - Herr Wei würde nie vergessen, sie zu leeren, bevor er sich spät abends zur Ruhe begab. Aber tagsüber mochte die Kassette einen ansehnlichen Betrag enthalten. Er ging um den Lattenschirm herum. Die große Kleiderkiste, in der er Wei hatte kramen sehen, stand immer noch dort, geschlossen. Er hob den Deckel. Sie war völlig leer. Keine Kleider. Und keine rote Jacke.
Richter Di setzte sich in den Armstuhl hinter dem Schreibtisch des Herbergswirts. Wei hatte ihn an einem strategisch wichtigen Punkt aufgestellt, denn von hier aus konnte er die ganze Halle durch den durchbrochenen Lattenschirm beobachten, ein wachsames Auge auf den Empfangstisch haben und sehen, wer seine Herberge betrat und wieder verließ. Ja, das Problem der markierten Karte war nun gelöst.
Blieb noch die letzte Frage zu beantworten, nämlich, wo sich die Halskette jetzt befand. Er war davon überzeugt, daß die Lösung zu diesem Problem hier im >Eisvogel< zu suchen war, und zwar in dem kleinen Umkreis des öden Alltags von Tai Min. Wieder stellte er sich vor, der Kassierer zu sein, auf dem hohen Schemel hinter dem Empfangstisch zu sitzen und dort unter dem wachsamen Auge von Wei seine Arbeit zu tun. Er würde den neuen Gästen das Fremdenregister zum Unterzeichnen vorlegen, und abreisende Gäste würden ihn nach ihrer Rechnung fragen. Tai Min würde dann die verschiedenen Forderungen für Zimmermiete und andere in Anspruch genommene Leistungen zusammenstellen, die fälligen Beträge auf seinem Abakus addieren und die Summe mit roter Tinte auf die Rechnung schreiben (die schließlich mit der braunen Gummilösung an die früheren Rechnungen des Tages geheftet würde). Nachdem der Gast bezahlt hätte, würde der Kassierer das Geld in die Kassette in der zweiten Schublade legen, dann >Zahlung erhalten< auf die Rechnung stempeln und...
Plötzlich setzte sich Richter Di auf. Er umklammerte die Armlehnen des Stuhls und ging rasch alle Fakten im Geiste durch. Ja, das war die Lösung, natürlich! Er lehnte sich zurück und schlug sich gegen die Stirn. Er hatte den schwersten Fehler begangen, den ein Verbrechensaufklärer nur begehen kann. Er hatte das, was offen zutage lag, übersehen!
Achtzehntes Kapitel
Das Krähen des Hahns im Hühnerauslauf des Kochs weckte den Richter. Er erhob sich langsam, denn jede Bewegung ließ seine steifen Muskeln schmerzen. Ächzend machte er ein paar der Übungen, die Boxer dazu benutzen, ihren Blutkreislauf zu regulieren. Dann zog er das lange schwarze Gewand der vorhergehenden Nacht an und setzte sich das kleine Käppchen auf den Kopf. Das gefaltete gelbe Dokument steckte er in den Ärmel.
Als er die Treppe hinabging, sah er zu seiner Überraschung etwa ein Dutzend Gardisten in der Halle herumlungern. Sjus großer Leutnant lehnte am Empfangstisch und trank gemütlich eine Tasse Tee mit dem Herbergswirt. Liu salutierte zur Begrüßung des Richters und sagte mit einem schwachen Lächeln:
»Ich sah heute morgen im Bericht der Nachtwache, daß Sie noch spät in der Nacht zu einer Entbindung gerufen wurden, Doktor. Ich hoffe, es war ein Junge.« Als der Richter nickte, fuhr er fort: »Freut mich für die Eltern. Ich erinnere mich noch, wie froh ich war, als mein Erstgeborenes sich als Junge entpuppte.« Er kratzte sich die Nase, eine Angewohnheit, die er seinem Hauptmann abgeschaut hatte. »Nun, der Hauptmann sagte mir, daß Sie vorhätten, ihn als allererstes heute morgen zu besuchen, und befahl mir, Sie abzuholen. Außerdem sahen wir vier Männer vor dem Haus - diesmal in Schwarz, nicht in Grau. Heutzutage treibt sich alles mögliche Gesindel auf den
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