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Halskette und Kalebasse

Halskette und Kalebasse

Titel: Halskette und Kalebasse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert van Gulik
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gesagt, daß Tai Min eine tiefe Zuneigung zu Frau Wei empfand, und obwohl er, der Richter, ihre Beurteilung von Frau Weis Charakter in Zweifel zog, war er davon überzeugt, daß Farn hinsichtlich Tai Min, einem jungen Burschen ihres eigenen Alters, recht hatte. Der Kassierer mußte erfahren haben, daß Frau Wei beabsichtigte, ihren knickerigen Mann zu verlassen, und er wird ihr erzählt haben, daß auch er fortgehen wolle, und daß, wenn sie in das Dorf der zehn hügeligen Meilen vorausginge, er sie dort später treffen und ihr helfen würde, sich irgendwo anders niederzulassen. Tai Min hoffte, sie zu gegebener Zeit bewegen zu können, einen gemeinsamen Haushalt mit ihm zu führen, und dafür brauchte er Geld. Das Silber, das Lang ihm versprochen hatte, stellte nur eine kleine Summe dar, und da Tai Min ein schlauer Bursche war, hatte er wahrscheinlich erkannt, daß Lang ihn ohnehin übers Ohr hauen würde. Daher beschloß er, die Halskette zu behalten. Farn hatte den Kassierer als einen einfachen jungen Mann beschrieben; wahrscheinlich war er sich nicht darüber im klaren gewesen, welche Auswirkungen es haben konnte, einen kaiserlichen Schatz zu stehlen, sondern hatte den Standpunkt eingenommen, den viele Leute aus dem einfachen Volk teilen, daß der Kaiser bei seinem immensen Reichtum nicht einmal etwas davon merken würde.
    Daß Frau Wei nicht in das Dorf vorausgegangen war, war ebenfalls verständlich. Sie hatte Tai Min zwar versprochen, ihn dort zu treffen, aber sie hatte ihm nur zum Schein nachgegeben, um sich seiner Aufmerksamkeiten zu erwehren. In Wirklichkeit war sie mit einer dritten, noch unbekannten Person durchgebrannt. Mit jemandem, den Tai Min vielleicht kannte und der dem Kassierer begegnet sein mochte, als dieser vom Palast zurückkam. Diese Punkte waren jedoch belanglos. Denn ganz gleich, wem Tai Min begegnet war, der Kassierer hatte ihm die Halskette nicht ausgehändigt. Wäre das der Fall gewesen, hätte er diese dritte Person genannt, als er von Längs Männern gefoltert wurde. Er hatte ausgehalten, weil er im Besitz der Halskette war und verzweifelt hoffte, zu überleben und sie sich holen zu können.
    Richter Di hob die Kalebasse in die Höhe und betrachtete sie aufmerksam. Er erinnerte sich, was Meister Kalebasse über die Bedeutung des Leerseins gesagt hatte. Um herauszufinden, wo Tai Min die Halskette verborgen hatte, mußte er sich leer machen und an die Stelle des Kassierers versetzen. Der Kassierer des >Eisvogels< werden und sein Leben leben. Der Richter schloß die Augen.
    Er sah sich auf dem hohen Schemel hinter dem Empfangstisch unten in der Halle. Schlecht bezahlt von seinem geizigen Brotherrn, saß er dort tagein, tagaus, vom Morgen bis in die Nacht. Seine einzige Zerstreuung war ein gelegentlicher Angelausflug auf dem Fluß -eine Zerstreuung, die er sich nur bei ruhigem Geschäftsgang in der Herberge erlauben konnte. Doch es gab eine tägliche Ablenkung, nämlich den Anblick der angebeteten Frau Wei. Die Frau des Herbergswirts muß oft in der Halle gewesen sein, denn nach Aussage des Besitzers der >Neun Wolken< beteiligte sie sich aktiv an der Leitung der Herberge. Der Kassierer wird jede Gelegenheit wahrgenommen haben, eine Unterhaltung mit ihr anzufangen. Nicht zu oft, denn sein Brotgeber wird sicher darauf geachtet haben, daß der Junge seine Pflichten am Empfangstisch nicht lange vernachlässigte. Verschiedene Rechnungen und Aufstellungen aussortieren, mit Hilfe seines Abakus Beträge addieren und die Summe mit roter Tinte niederschreiben... Rote Tinte!
    Richter Di öffnete die Augen. Das war ein Punkt, der der Beachtung wert schien. Tai Min hatte den Weg zum Dorf der zehn hügeligen Meilen mit roter Tinte markiert. Die Karte war gewiß in einer der Schubladen des Empfangstisches gewesen, denn sie mußte griffbereit sein, für die Bequemlichkeit der Gäste. Und oben in seinem Dachzimmer wird Tai Min keine rote Tintenmasse gehabt haben, auch nicht den besonderen Tuschestein, um sie anzureiben. Das bedeutete, daß er die Karte markiert haben mußte, während er am Empfangstisch saß. Du lieber Himmel, war das die Antwort? Er setzte sich aufrecht hin, legte die Kalebasse aufs Bett und rieb sich nachdenklich den Nacken. Er beschloß, selbst nachzusehen.
    Der Richter ging in den Flur hinaus, wobei er vorsichtig das knarrende Bodenbrett vermied. Die Halle wurde von einer einzigen Laterne über dem Empfangstisch schwach erleuchtet. Der Gehilfe hatte aufgeräumt und nur den großen

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