Haltlos
Keenlein. Wir haben uns bei der umgestürzten Eiche im Projensdorfer Gehölz getroffen.“
J schnappte entsetzt nach Luft. „Ihr habt WAS?! Welcher ehrenhafte Mann schlägt so einen Treffpunkt fürs erste Date vor? Und welche halbwegs vernünftige junge Frau geht auch noch darauf ein? Mann, Victoria! Wie konntest du so etwas Leichtsinniges machen? Wenn ich DAS gestern Abend gewusst hätte, hätte ich dich begleitet!“
Jetzt musste sie grinsen. „J, genau deswegen habe ich dir nichts davon erzählt. Ich bin erwachsen und es ist ja nichts passiert.“
Er hatte sich wieder etwas beruhigt und sagte nun mit einem schiefen Lächeln: „Du kennst mich schon ziemlich gut, was? Trotzdem Victoria, das war echt unvernünftig!“
„Ich weiß, aber ich war mir sicher, dass mir nichts zustoßen würde… Willst du jetzt wissen, wie es gelaufen ist oder möchtest du lieber mit deiner Moralpredigt weitermachen?“
Natürlich war J neugierig. Victoria erzählte ihm fast alles haarklein, nur die Teile mit dem Drachen ließ sie aus.
Ungläubig fragte J: „Und er hat sich wirklich mit Küssen begnügt?“
Sie grinste. „J, es war unser erstes Date. Und außerdem ist er nicht so ein Draufgänger wie manch andere Herren!“
Sie musste daran denken, dass Mark sich bei ihrem ersten Date niemals mit Küssen begnügt hätte. Aber Mark war auch nie Gefahr gelaufen, seine Selbstbeherrschung zu verlieren. Bei dem Gedanken an Jaromirs Anstrengung, sich nicht zu verwandeln, breitete sich wieder ein angenehmes Kribbeln in ihr aus.
J murmelte in seinen Bart: „Also doch kein verzweifelter Mittdreißiger, der seine Position als Professor ausnutzt und versucht, sich naive Studentinnen zu angeln.“
„Nein, liebster Mitbewohner, vor solchen Professoren werden wir bei uns an der Fakultät schon im ersten Semester gewarnt.“
„Und er schien sich ja auch wirklich Mühe gegeben zu haben mit dem Picknick. Ich meine, echte Porzellanteller, Kristallgläser und all so ‘n Schnickschnack.“ Dann wurde J‘s Blick wieder misstrauisch. „Sag mal, das war ja SEHR professionell. Macht der so etwas öfter?“
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, macht er nicht.“
„Woher willst du das so genau wissen?“
Sie grinste. „Ich hatte den gleichen Gedanken wie du und habe Jaromir einfach direkt gefragt. Er wurde daraufhin leicht verlegen und gab zu, dass er sich Rat bei einem Kollegen geholt hatte, der sich mit so was auskennt.“
J sah sie nachdenklich an und meinte: „Ich glaube, ich muss mir diesen Herrn Geometrieprofessor wirklich mal ansehen.“
„Vielleicht hast du heute Nachmittag Gelegenheit dazu. Er wollte mich nachher abholen.“
J zog erstaunt eine Augenbraue hoch. „Ihr trefft euch heute gleich schon wieder?“
„Ja, das haben wir vor. Was dagegen?“
Dann sah Victoria plötzlich eine kindische Freude in seinen Augen. „Und was ist nun wieder?“, fragte sie leicht genervt und verdrehte die Augen.
„Holt er dich mit seinem Auto ab?“
Nun musste Victoria laut lachen. „Möchtest du, dass ich dich mit ihm bekannt mache?“
J grinste wie ein kleiner Junge an seinem Geburtstag. „Das würdest du für mich tun?“
Nach dem Frühstück machte sie sich an ihre Aufgaben. Das hatte gleich zwei positive Effekte: Erstens war sie abgelenkt und so verging die Zeit bis zum Nachmittag schneller und zweitens hatte sie gegen fünfzehn Uhr alle Aufgaben für diese Woche erledigt und somit morgen frei.
Sie sortierte in aller Ruhe ihre Unterlagen und packte schon mal ihren Rucksack für Montag. Das hatte sie schon in der Kindheit so gemacht. Ihr Bruder Max war da ganz anders. Er hatte seine Sachen frühestens am Abend vorher gepackt, meist jedoch erst am Morgen vor der Schule. Sie konnte den Stress einfach nicht ausstehen, wenn etwas fehlte und sie dann am Morgen hektisch suchen musste. „Nein, es muss schon alles seine Ordnung haben!“ Zufrieden schloss sie den Rucksack und stellte ihn neben die Tür.
„Wann er wohl vorbeikommen wird und ob er vorher anruft?“
Genau in dem Moment hörte sie seine Gedankenstimme aus einiger Entfernung: „Hallo Victoria. Würde es dir passen, wenn ich dich in einer Viertelstunde abhole?“
Er hörte sich etwas gedämpfter an, als wenn er genau neben ihr stand, aber sie konnte ihn klar und deutlich verstehen.
Die Schmetterlinge erwachten aus ihrem Nachmittagsschläfchen. „In einer Viertelstunde passt es perfekt.“
Dann fiel ihr J’s merkwürdiges Verhalten vom Frühstück ein.
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