Haltlos
Er hatte etwas von einer Glucke gehabt, die ihre Küken beschützen wollte. Sie fragte zögernd: „Würde es dir etwas ausmachen, noch kurz raufzukommen? Mein Mitbewohner würde dich gern kennenlernen…“
Jaromirs Stimme klang etwas verwirrt. „Dein Mitbewohner?“
„Ja“ , antwortete sie und übermittelte ihm ein paar Bilder von J, gemeinsamen Mahlzeiten, Gesprächen und Spaziergängen. „J ist für mich so eine Art Ersatz-großer-Bruder. Er war ganz aufgebracht, als ich ihm heute Morgen von unserem Treffen im Projensdorfer Gehölz erzählt habe.“
„Du hast ihm von uns erzählt?“
Sie konnte seinen Unwillen und sein Misstrauen spüren. „Er wusste schon Anfang des Semesters von dir – J zieht mir einfach alles aus der Nase… Natürlich habe ich ihm nicht ALLES erzählt – ich will doch nicht, dass er mich für verrückt hält und mich einweisen lässt!“
Jaromirs Misstrauen war leichter Belustigung gewichen. „Und jetzt will er sehen, ob ich auch gut genug für dich bin?“
„Ja, ich fürchte, so etwas in der Art wird es wohl sein…“
Dann zeigte Victoria ihm noch den Abend, an dem J begeistert die Aston Martin Bilder angesehen hatte und ergänzte grinsend: „Außerdem steht er auf dein Auto.“
„Also gut, ich klingle dann gleich bei euch“ , antwortete er amüsiert.
Victoria ließ die Verbindung abbrechen und spürte, dass sie die Unterhaltung über diese Entfernung ziemlich angestrengt hatte. Die Packung mit dem Zimtkaugummi lag auf dem Nachttisch und sie nahm sich einen Streifen. Nach wenigen Augenblicken ging es ihr schon wieder besser.
Erstaunlich, was Zimt so alles ausrichten konnte… Sie würde sich auf alle Fälle einen kleinen Vorrat von diesem HotSpice anlegen.
Dann bemerkte sie, dass Jaromir in seinen Wagen stieg und losfuhr.
Sie schaute noch einmal prüfend in den Spiegel: Sie trug eine blaue Jeans und ein weißes T-Shirt mit Blumendruck und Strass-Steinen an der rechten Schulter. Das war genau richtig für heute. Sie nahm ihre schwarze Lieblings-Fleecejacke vom Stuhl und zog sie an.
Wenige Minuten später klingelte es an der Tür. Sie spürte genau, dass Jaromir unten stand und auf den Knopf gedrückt hatte. Die Schmetterlinge flatterten begeistert, aber Victoria riss sich zusammen und ließ J die Tür öffnen. Als sie den Summer hörte, verließ sie mit einem Lächeln ihr Zimmer.
J stand im Wohnungsflur und hatte die Tür geöffnet. Er sah misstrauisch, aber auch neugierig in das Treppenhaus hinunter. Sie hörte Jaromirs Schritte und dann stand er auch schon in der Wohnung.
J war einen großen Schritt zurück getreten und musterte den Professor argwöhnisch.
Jaromir hob die rechte Hand lässig zum Gruß und sagte: „Hi J, ich bin Jaromir. Ich wollte Victoria abholen. Ist sie da?“
„Ja, das ist sie“, antwortete J ziemlich kurz angebunden.
Der Ältere lächelte und fuhr fort: „Victoria hat mir gestern Abend erzählt, dass du dich für den Aston Martin aus den Sechzigern interessierst. Zufällig fahre ich so ein Auto. Wenn du willst, kannst du es dir bei Gelegenheit mal ansehen.“
In J’s Augen flackerte eine kindliche Begeisterung auf. Am liebsten wäre er wohl sofort mit nach unten gegangen, aber er hielt sich zurück und antwortete nur: „Ja, das kann ich bei Gelegenheit vielleicht mal tun.“
Victoria erlöste die beiden und trat um die Ecke. „Hallo Jaromir“, sagte sie lächelnd.
Es fühlte sich noch ganz ungewohnt an, ihn laut mit Vornamen anzusprechen. Gestern um diese Zeit war er nur ihr Professor gewesen und jetzt war er … ja, was war er denn jetzt? Ihr Freund?!. Das war alles so frisch, dass sie es kaum glauben konnte. Es fühlte sich merkwürdig und fremd an. „Daran werde ich mich echt noch gewöhnen müssen.“
Er sah sie an und seine schönen, braunen Augen tauchten sie in flüssiges Glück. Sie strahlte zurück und nun leuchteten seine Augen förmlich.
J murmelte vor sich hin: „Na, dann will ich mal nicht länger stören.“ Und etwas lauter: „Kommst du heute Nacht nach Hause, Vici?“
Sie riss sich von Jaromirs Augen los. „Es wird bestimmt wieder spät – warte nicht auf mich…“
„Dann wünsche ich euch viel Spaß.“ J sah Jaromir demonstrativ an und ergänzte noch etwas schroff: „Bis morgen früh denn, Prinzessin.“ – sprach es, drehte sich um und verschwand in seinem Zimmer.
Victoria musste nun einfach grinsen.
Sie nahm ihre Jacke von der Garderobe und rief: „Dir auch einen schönen Abend, J.
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