Haltlos
vor ihr war vom Kopf bis zur Schwanzspitze ungefähr zehn Meter lang, wobei der Schwanz die Hälfte der Körperlänge ausmachte. Hals und Kopf waren zusammen wahrscheinlich drei Meter lang und der Rumpf zwei. Vier schlanke Beine hoben den Rumpf so hoch vom Boden, dass Victoria wohl ohne sich zu bücken zwischen ihnen umherlaufen könnte und sie war immerhin einen Meter siebzig groß. Die Drachengestalt war feingliedrig und sah durchtrainiert und kraftvoll aus – eben genau so athletisch wie Jaromir in seiner Menschengestalt. Die Schuppen waren kohlrabenschwarz und so matt, dass sie fast alles Licht verschluckten. Es war ein majestätischer Anblick, auch wenn der Drache in der Dunkelheit eher zu erahnen als tatsächlich zu sehen war.
Sie war sich sicher, dass sie nicht träumte. „Werde ich jetzt doch verrückt?“
Da hörte sie Jaromirs Stimme in ihrem Kopf: „Nein, du wirst nicht verrückt. Das hier ist die Wirklichkeit und keine Illusion. Wenn du möchtest, kannst du zu mir kommen und mich berühren – ich bin real.“
Sie schüttelte noch einmal ungläubig ihren Kopf und als der Drache auch jetzt nicht verschwand, stand sie langsam auf und näherte sich ihm vorsichtig.
Ihr Verstand wollte sie warnen und schrie sie förmlich an: „Wenn du tatsächlich nicht verrückt bist und das vor dir ein riesiger Drache ist, dann solltest du nicht auf ihn zugehen, sondern in die andere Richtung rennen was das Zeug hält!“
Aber die Schmetterlinge in ihrem Bauch meinten nur trocken: „Ach, halt die Klappe – das ist doch nur Jaromir – der Professor, in den du dich so unsterblich verliebt hast.“
Und tatsächlich: Die Augen des Drachens waren Jaromirs anziehende, braune Augen und tauchten Victoria wieder einmal in warmes Glück.
Jetzt war sie sich sicher, dass ihr nichts passieren würde. Sie ging die letzten Meter auf das große Himmelswesen zu und berührte sanft die Schuppen an seinem linken Vorderbein.
Überrascht stellte sie fest, wie hart sie sich anfühlten. Trotzdem waren sie nicht kalt, wie sie erwartet hatte, sondern warm und trocken.
Als sie nach unten sah, erblickte sie eine mächtige Klaue, die mit dolchgroßen, rasiermesserscharfen Krallen bewehrt war. Sollte dieses Wesen jemals angegriffen werden, wüsste es sich eindeutig zu verteidigen, dessen war sich Victoria sicher.
„Ich kämpfe so gut wie nie und wenn, dann sind das meist sportliche Wettkämpfe mit meinen Artgenossen, bei denen niemand absichtlich verletzt wird. Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Victoria.“
Die Unsicherheit in Jaromirs Gedankenstimme ließ sie aufblicken. Sie sah in seinen Augen, dass er fürchtete, sie zu erschrecken und dass sie sich nun, da sie seine wahre Gestalt kannte, abgestoßen von ihm abwenden würde. Diesen Gedanken konnte er kaum ertragen.
Sie trat ein paar Schritte zurück, um ihm besser in sein markantes Drachengesicht gucken zu können und sagte laut: „Aber ich habe gar keine Angst! Ich bin nur unglaublich … erstaunt. Ich meine…“
Victoria fehlten die Worte. Sie hob eine Hand in Richtung seines großen Hauptes, fast als wollte sie ihn tröstend streicheln. „Du bist… du bist…“ Sie lächelte: „… Wahnsinn...“
Er wandte seinen Blick keine Sekunde von ihr ab. Sie sah noch immer in seine Augen und wieder überflutete sie eine Welle warmen Glücks.
„Was mir an deiner Drachengestalt am besten gefällt, sind deine Augen!“
„Du hast wirklich keine Angst?“ , fragte er ungläubig.
Victoria schloss kurz die Augen und konzentrierte sich auf ihren neuen Sinn. Sie spürte, dass die Gestalt vor ihr eindeutig Jaromir war – nur eben deutlich größer und von einer stärkeren Macht umgeben. Und sie nahm seine Angst wahr, sie könnte ihn ablehnen.
Sie öffnete die Augen wieder und dachte sanft aber eindringlich: „Egal, welche Gestalt du annimmst, du bleibst immer Jaromir Custos Portae für mich. Und solange deine Augen mich so anblicken wie jetzt, kann ich gar nichts anderes als Glück empfinden!“
Die Luft um Jaromir flirrte erneut und dann stand er wieder in Menschengestalt vor ihr.
Er ging langsam auf sie zu und sprach sehr leise, als er sagte: „So einen Menschen wie dich dürfte es eigentlich gar nicht geben!“
Sie konnte das, was sie gerade gesehen hatte, kaum glauben. Also lächelte sie nur und zuckte mit den Schultern.
Er schüttelte erstaunt den Kopf: „Meine Drachengestalt hat bis jetzt jeden Menschen in Angst und Schrecken versetzt, aber du lächelst mich an
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