Haltlos
Sicherheit zu wissen.“
Sie hatte alles gesehen und war völlig überwältigt. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie so gefühlt. Was war das bloß, was sie so stark zu Jaromir hinzog? Sie lag noch immer in seinen Armen und ohne es zu wollen, liefen ihr die Tränen über die Wangen.
Allmählich wurde ihr klar, dass sie und Jaromir miteinander verbunden sein würden, solange sie lebten. Sie waren von Anfang an für einander bestimmt gewesen. Weder er noch sie hatten eine Wahl. Es war einfach so.
Wie konnte das sein? Alles ging so schnell – viel zu schnell und fühlte sich doch so richtig an. Das war nicht logisch. Und außerdem entschied sie gern selbst über ihr Leben. Langsam wischte sie sich die Tränen ab und löste sich aus seinen Armen.
Sie war erschöpft und verwirrt.
Ihr Verstand hatte seinen Widerstand noch nicht ganz aufgegeben und so sah Victoria Jaromir fast schon trotzig an und sagte: „Aber ich glaube doch gar nicht an die große Liebe! Oder an die Liebe auf den ersten Blick … und an das Schicksal glaube ich schon gar nicht. … Ich meine, ich bin Mathematiker – das ist doch alles nicht logisch!“
Seine Augen funkelten schelmisch und er lachte leise. „Und doch weißt du, dass es so ist, wie es ist.“
Sie seufzte resigniert: „Ich habe keine Wahl, oder?“
Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, die hast du nicht. Genauso wenig wie ich.“
Seine Augen schienen nun in Flammen zu stehen. Dann stand er auf und reichte ihr seine Hand. „Komm mit! Wir haben für heute genug gearbeitet… und du kannst jetzt ein wenig Frieden brauchen.“
„Wohin gehen wir?“
Er lächelte nur und zog sie sanft hinter sich her. Zielstrebig ging er aus dem Salon und öffnete ein paar Meter weiter eine verborgene Tür im Flur. Dahinter war ein schmaler Gang. Es war stockdunkel, doch plötzlich schwebte ein Licht über seinem Kopf.
Victoria wunderte sich über gar nichts mehr und lief einfach hinter ihm her.
Sie stiegen eine enge Wendeltreppe hinauf, die gar nicht enden wollte. Schließlich hatten sie doch ihr Ziel erreicht und Jaromir öffnete wieder eine Tür, die eigentlich gar nicht da war. Sie traten in einen großen runden Raum. Hier hätte er sogar in Drachengestalt Platz. Der Raum war schlicht, weiß gestrichen und hatte rundherum kleine Fenster. Auf dem Fußboden war ein kompliziertes geometrisches Mosaik in kräftigen Farben gelegt. Es war nicht gerade schön, aber dafür sehr deutlich und einprägsam.
Victoria blickte nach draußen und merkte erst jetzt, dass es sehr spät sein musste. Die Sonne war schon vor Stunden untergegangen.
Jaromir führte sie zu einem Fenster und stellte sich hinter sie. Sie spürte, wie er seine Arme von hinten um sie legte und blickte nach draußen.
Der Mond hatte sein kaltes, silbernes Licht in die Förde gegossen. Tausend kleine Glitzerlichter tanzten auf den Wellen und ließen sie glänzen. Der Blick übers Wasser war überwältigend und brachte ihr einen tiefen Frieden. Voll und rund stand der große, blasse Mond hoch oben und überstrahlte die Sterne. Draußen war alles so ruhig und still.
Jaromirs Nähe brachte ihr das bekannte, willkommene Kribbeln und sie entspannte sich. Erst jetzt bemerkte Victoria, wie erschöpft sie tatsächlich war.
Es war schon spät, sie hatte heute Unfassbares gelernt und jede Menge Magie gewirkt – in den letzten Stunden eindeutig zu viel und wahrscheinlich hatte sie auch zu wenig Zimt zu sich genommen.
Zu guter Letzt hatte sie dann noch begriffen, dass sie mit dem Wesen, das sie so liebevoll im Arm hielt, bis an ihr Lebensende verbunden sein würde.
Das war einfach zu viel.
Sie hörte seine leise Stimme: „Wir werden das schon schaffen, Victoria. Gemeinsam. Und Schritt für Schritt.“
Plötzlich war sie von seiner Liebe regelrecht umhüllt. Sie drehte sich langsam um und sah in seine warmen, braunen Augen, die von einem Lächeln umspielt waren.
Sie wollte zurücklächeln, aber sie war so unsagbar müde.
Dann wurde alles schwarz um sie herum.
Als sie die Augen aufschlug, lag sie auf dem Sofa im Salon. Jaromir saß neben ihr, hielt ihre Hand und rief leise ihren Namen.
„Das war wohl heute alles etwas viel für dich! Ich hätte besser aufpassen müssen.“
Er half ihr beim Aufrichten und hielt ihr eine Tasse Jogi-Tee hin. Das Getränk war zwar schon kalt, aber das beeinträchtige seine Wirkung kaum.
„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte sie matt.
„Es ist schon fast zwei“, antwortete er lächelnd.
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