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Hand und Ring

Titel: Hand und Ring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Kathrine Green
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Auch verschwand dies Bild nicht flüchtig wieder; nein, wie bei einer unsichtbaren Schrift, die, ans Licht gehalten, deutlich hervortritt, kamen nach und nach alle die feinen unverkennbaren Linien zum Vorschein, die Zeugnis ablegten von dem wahren Charakter, von der verborgenen Gesinnung des Mannes, der bisher in der Achtung der Welt so hoch gestanden hatte.
    Fragend hob Imogen das Auge zu Ferris empor, um zu sehen, ob er die furchtbare Veränderung gewahre; die Erschütterung, welche sie in seinen Mienen las, gab ihr genügende Antwort.
    Und wieder schlichen die Minuten träge dahin.
    Plötzlich machte der Arzt ein Zeichen: Tredwell, Ferris und ein fremder Herr, der gerade eingetreten war, eilten herzu. Aber schon hatte sich Imogen erhoben; auf ihren Wink, halb Bitte, halb Befehl, wichen die andern zurück, und sie beugte sich langsam über das Bett des zu Tode Verwundeten. – Er hatte sie erkannt, seine Lippen bewegten sich; sie hielt das Auge fest auf ihn gerichtet, ihre ganze Seele lag in dem Blick; dann wiederholte sie ernst und feierlich die Frage, die sie in jener verhängnisvollen Stunde an ihn gestellt hatte: Wenn Craik Mansell die Witwe Klemmens nicht getötet hat – sagen Sie mir – wer ist der Mörder?
    Sie wartete auf die Antwort, die ihre entschlossene Gebärde unabweisbar zu fordern schien, während die Zeugen des Auftritts, welchen die Bedeutung ihrer Worte unverständlich war, nicht anders glauben konnten, als daß der letzte schwere Schlag ihr den Verstand geraubt habe.
    Ein krampfhaftes Zittern durchzuckte die Glieder des Sterbenden, vergebens forschte sein Auge in ihren Zügen nach einer Spur von Nachsicht oder Milde, dann öffneten sich die starren Lippen:
    Hat nicht das Schicksal gesprochen? sagte er laut und nachdrücklich.
    Hoch aufgerichtet stand Imogen da und deutete mit dem Finger auf die bleiche Gestalt.
    Ihr habt es gehört, rief sie, Tremont Orkutt gesteht auf dem Totenbette, daß die Vergeltung des Himmels sich an ihm verkündet. Wer den Fluch vernommen hat, den die Witwe Klemmens gegen ihren Mörder schleuderte, muß wissen, was das bedeutet.
    Ferris, der von allen Anwesenden wohl das wärmste Gefühl für den Rechtsanwalt hegte, war außer sich vor Entrüstung über die ruchlose Beschuldigung, die das Sterbelager seines Freundes entweihte.
    Wahnsinnige, rief er, sie von dem Platze verdrängend, was für eine Raserei werden Sie noch ersinnen? – Er beugte sich nieder, um ein erklärendes Wort aus Orkutts eigenem Munde zu vernehmen, allein der Leidende war schon wieder in Bewußtlosigkeit zurückgesunken; nach allen Anzeichen konnte der Tod nicht mehr fern sein.
    In heftiger Erregung wandte sich Ferris an die bestürzten Anwesenden. Diese Anklage, rief er, erinnert lebhaft an diejenige, welche Fräulein Dare gestern vor Gericht gegen sich selbst erhoben hat. Sie ist von Sinnen und weiß nicht mehr, was sie redet.
    Niemand kennt jenen Mann, so wie ich ihn kenne, sagte Imogen ruhig und bestimmt. Dann zog sie sich still in eine dunkle Zimmerecke zurück, das weitere abzuwarten. Sie war überzeugt, daß der Finger Gottes selbst den Mörder gezeichnet habe, nach welchem man so lange vergebens geforscht hatte.
    Jetzt sah Ferris, der kein Auge von dem Freunde verwandte, wie Orkutt abermals zum Bewußtsein erwachte und starr ins Leere blickte. Mit klarer durchdringender Stimme, als spräche er vor versammeltem Gerichtshof, rief er: Blut fordert Blut, und dann in leisem, vertrautem Ton: O Imogen, Imogen – alles um deinetwillen. Seine Augen schlossen sich wieder, und ihren Namen noch auf den Lippen, versank er zum letztenmal in Bewußtlosigkeit.
    Imogen war aufgestanden. Meines Bleibens ist hier nicht länger, murmelte sie; ich habe meine Pflicht getan, nun will ich gehen.
    Sie blickte um sich; in den Gesichtern aller Anwesenden glaubte sie ihr Verdammungsurteil zu lesen. Das brach ihr den Mut, sie schwankte und wäre umgesunken, hätte nicht ein ihr unbekannter Herr den Arm ausgestreckt, um sie zu stützen. Noch einmal wandte sie sich an Ferris:
    Hören Sie mich, ich rede die Wahrheit! Besser als Craik Mansell, als Valerian Hildreth und als die unglückliche Imogen Dare, hätte der Mann, welcher hier von der Rache des Himmels ereilt, auf dem Sterbebette liegt, Ihnen sagen können, wie Frau Klemmens den Tod gefunden hat.
    Sie wankte aus dem Zimmer und dem Ausgang zu. Matt lehnte sie sich gegen den Türpfeiler. O, wie soll ich es beweisen, wer wird meinen Worten Glauben schenken? stöhnte

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