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Hand und Ring

Titel: Hand und Ring Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Kathrine Green
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noch am Leben sei.
    Tredwell bejahte dies mit ernster Miene und ging Ferris voran nach Orkutts Schlafzimmer. Hier bot sich dem Bezirksanwalt ein seltsamer Anblick. Er strich sich mit der Hand über die Stirn, als wolle er einen bösen Traum verscheuchen, dann wandte er sich zu dem Coroner:
    Doktor, sagte er, mir scheint, wir sehen diesen Auftritt nicht zum erstenmal; er weckt eine furchtbare Erinnerung in meiner Brust.
    So war es auch. Was sie vor Monaten in dem kleinen Hause am andern Ende der Stadt erlebt hatten, schien sich hier wiederholen zu sollen: auf dem Bette lag eine bleiche, bewußtlose, schwer atmende Gestalt mit starren Zügen, die Beute des nahen Todes. Auch Orkutt war am Kopf verletzt, wie die schweren Binden bezeugten, und derselbe Arzt, der damals zu Frau Klemmens gerufen worden war, weilte an der Seite seines Lagers. Am Fußende des Bettes aber, das wachsame Auge stets unbeweglich auf denselben Punktgerichtet, saß Imogen Dare, als habe sie das nächste Recht an dem Sterbenden. Keiner wagte ihr den Platz streitig zu machen, auch Orkutts Schwester nicht, deren liebevolles Gemüt von dem schrecklichen Verlust tief gebeugt war.
    Ferris und Tredwell hatten sich in die entfernteste Zimmerecke zurückgezogen.
    Ist keine Hoffnung mehr vorhanden? fragte ersterer.
    Nein, die Wunde ist lebensgefährlich; zudem hat sie merkwürdige Aehnlichkeit mit derjenigen, welche Frau Klemmens' Tod herbeiführte. Er wird vielleicht noch einmal zum Bewußtsein kommen, aber seine Stunden sind gezählt. Ein Trost ist's nur, daß diesmal kein Mord vorliegt.
    Der Bezirksanwalt sah nach Imogen hinüber: Wie kam sie in seine Nähe? fragte er.
    Tredwell ging mit ihm ins Nebenzimmer.
    Das Unglück hat sich gerade zugetragen, als Orkutt Fräulein Dare zur Gartentür begleitete, erklärte er; der Ast ist auf beide herabgestürzt.
    Und das Fräulein ist nicht verletzt? fragte Ferris mit düsterer Miene.
    Tredwell schüttelte den Kopf. Sie ist heil und gesund, erwiderte er.
    Und doch waren sie dicht beisammen?
    Sie stand neben ihm, der Ast warf sie beide zu Boden, flüsterte eine Stimme an seiner Seite: Byrd war hinzugetreten.
    Es geschah also in Ihrer Gegenwart? fragte Ferris den Detektiv.
    Ja, ich war dabei, lautete die kurze Antwort.
    Bald darauf ward Tredwell durch einen Freund abgerufen.
    Haben Sie mir noch Näheres mitzuteilen? fragte Ferris, als er sich mit Byrd allein sah.
    Ich weiß nicht, entgegnete dieser, von ihrer letzten Unterredung haben wir wenig gehört.
    Dann erzählte er dem Bezirksanwalt, was sich an dem Abend begeben hatte; er berichtete genau, wie Imogen mit allen Zeichen der Furcht aus dem Bibliothekzimmer entflohen, und Orkutt ihr nachgeeilt war; auch wiederholte er das Gespräch, welches zwischen ihnen unter dem Baum stattgefunden, bis der Ast sie in seinem Sturze begrub.
    Hickory und ich, fuhr er fort, glaubten nicht anders, als daß sie zerschmettert und blutend darunter liegen würde, aber sie richtete sich bald auf, und als sie Orkutt regungslos am Boden sah, beugte sie sich über ihn, gerade als lausche sie gespannt, ob er den angefangenen Satz nicht vollenden werde.
    Welchen Satz?
    Seine letzten Worte, ehe das Unglück geschah, lauteten: »Wenn ein Mensch die Strafe für das Verbrechen erleidet, so soll es nicht Craik Mansell sein, sondern –«. Weiter kam er nicht.
    Mein armer Freund, rief Ferris voll Trauer, mitten aus den Pflichten seines Berufs, dessen Zierde er war, ist er so plötzlich dahingerafft worden! Wahrlich, die Wege der Vorsehung sind dunkel.
    Schmerzerfüllt trat der Bezirksanwalt wieder in das Sterbezimmer zurück, wo inzwischen keine Veränderung vorgegangen war; der bleiche Mann lag in den Kissen, und am Bette wachten der Arzt und Imogen, die noch immer unbeweglich dasaß, weder Gram noch Hoffnung in den Mienen, nur entschlossenes schweigendes Warten.
    So schlich eine Stunde nach der andern in drückender Langsamkeit dahin. Es war fast vier Uhr geworden, als Ferris, der etwas abseits gesessen hatte, sich erhob und von unbestimmtem Grauen getrieben, näher an Orkutts Lager trat. Er starrte nach ihm hin, unfähig zu begreifen, waser vor sich sah. Auch aus Imogens Blicken sprach stummes Entsetzen. Was war denn vorgegangen? – Der Sterbende gab kein Zeichen von wiederkehrendem Bewußtsein, aber das war nicht mehr der Mann, den sie seit Jahren gekannt und verehrt hatten: ein fremder, bösartiger Ausdruck lag in seinen Zügen, der alle, die ihn liebten, aufs peinlichste berühren mußte.

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