Handyman Jack 01 - Die Gruft
hier!
Sie sollte sich nicht fürchten – schließlich war sie eine Wächterin –, und trotzdem hatte sie Todesangst. Je weiter sich die Plattform dem Boden des Laderaums näherte, desto größer wurde ihre Furcht. Ihr Mund war wie ausgetrocknet und ihr Herz hämmerte schmerzhaft gegen ihre Rippen.
»Halt an, Kusum!«
»Keine Angst. Sie können uns nicht sehen.«
Das wusste sie, aber es beruhigte sie keineswegs.
»Halt sofort an! Bring mich wieder nach oben!«
Kusum drückte auf einen anderen Knopf. Die Plattform blieb stehen. Er sah sie mit einem seltsamen Blick an, dann ließ er die Plattform wieder steigen. Kolabati musste sich an ihm festhalten. Sie war erleichtert, dass sie sich von den Rakoshi entfernte, aber ihr war auch klar, dass sie ihren Bruder tief enttäuscht hatte.
Das ließ sich nicht ändern. Sie hatte sich verändert. Sie war nicht mehr das gerade verwaiste kleine Mädchen, das zu seinem älterem Bruder wie zu einem Gott aufsah und das mit ihm zusammen nach einem Weg gesucht hatte, wie man die Rakoshi zurückbringen und damit dem Tempel zu seinem früheren Ruhm verhelfen könne. Das kleine Mädchen war für immer verschwunden. Sie hatte sich in die Welt aufgemacht und festgestellt, dass man außerhalb von Indien sehr gut leben konnte. Sie wollte hierbleiben.
Im Gegensatz zu Kusum. Sein Herz und sein Verstand hatten sich nie von diesen feuergeschwärzten Ruinen in den Bergen von Bharangpur gelöst. Für ihn gab es kein Leben außerhalb Indiens. Und selbst in seinem Heimatland war er mit seinem strengen Fundamentalismus so etwas wie ein Fremdkörper. Er verehrte Indiens Vergangenheit. Das war das Indien, in dem er leben wollte, nicht das Land, auf das Indien hinarbeitete.
Als die Luke hinter ihnen geschlossen und verriegelt war, entspannte sich Kolabati und genoss die frische Luft. Wer hätte jemals gedacht, dass die smogverpestete New Yorker Luft so gut riechen könnte? Kusum führte sie zu einer Stahltür in der Außenwand der Decksaufbauten. Er öffnete das Vorhängeschloss, mit dem sie gesichert war. Dahinter befanden sich ein kurzer Korridor und eine einzelne möblierte Kabine.
Kolabati setzte sich auf die Koje, während Kusum stehen blieb und sie ansah. Sie hielt den Kopf gesenkt, sie konnte ihm nicht in die Augen sehen. Sie hatten beide nicht ein Wort gesagt, seit sie den Lagerraum verlassen hatten. Kusums offenkundige Missbilligung ärgerte sie, weil sie sich dabei wie ein ungezogenes Kind vorkam, aber sie konnte nichts daran ändern. Er hatte das Recht, sich so zu benehmen.
»Ich habe dich in der Hoffnung hergebracht, dich in meine weiteren Pläne einweihen zu können«, sagte er schließlich. »Ich sehe, das war ein Fehler. Du hast jede Beziehung zu deinem Erbe verloren. Du willst lieber so werden wie die Millionen anderer seelenloser Menschen in diesem Land.«
»Erzähle mir von deinen Plänen, Kusum.« Sie spürte seinen Schmerz. »Ich möchte von ihnen hören.«
»Du wirst von ihnen hören. Aber wirst du auch zuhören?« Er beantwortete seine eigene Frage, ohne ihr dazu Gelegenheit zu geben. »Ich glaube nicht. Ich wollte dir erzählen, wie man die Rakoshi einsetzen kann, um mir zu Hause beizustehen. Mit ihrer Hilfe kann man die beseitigen, die Indien zu etwas machen wollen, für das es nie bestimmt war, und die unser Volk von den wahren Dingen des Lebens entfremden in einem wahnsinnigen Versuch, aus Indien ein weiteres Amerika zu machen.«
»Dein politischer Ehrgeiz.«
»Kein Ehrgeiz! Meine Bestimmung!«
Kolabati hatte dieses fiebrige Leuchten in den Augen ihres Bruders bereits früher gesehen. Es erschreckte sie fast so sehr wie die Rakoshi. Aber ihre Stimme blieb ruhig.
»Du willst die Rakoshi zu politischen Zwecken missbrauchen.«
»Das will ich nicht! Aber der einzige Weg, Indien wieder auf den rechten Pfad zu bringen, führt über politische Macht. Es ist mir bewusst geworden, dass mir dieses Rakoshi-Nest nicht anvertraut wurde, nur um einen Schwur zu erfüllen. Hier ist ein größerer Plan am Werk und ich bin ein Teil davon.«
Mit wachsender Niedergeschlagenheit begriff Kolabati, wo dies alles hinführte. Er drehte sich alles um ein Wort:
»Hindutvu.«
»Ja – Hindutvu! Ein wiedervereinigtes Indien unter Hindu-Herrschaft. Wir werden das rückgängig machen, was die Briten 1947 angerichtet haben, als sie das Pandschab zu Pakistan machten und Bengalen verstümmelten. Wenn ich doch damals die Rakoshi gehabt hätte – Lord Mountbatton hätte Indien niemals lebend
Weitere Kostenlose Bücher