Handyman Jack 01 - Die Gruft
niemand da war, dem sie etwas vormachen konnte, dann brach sie zusammen.
Grace, oh Grace, Grace, Grace. Wo kannst du nur sein? Und wie kann ich ohne dich weiterleben?
Seit sie vor dem Krieg nach Amerika geflüchtet waren, war ihre Schwester immer auch ihre beste Freundin gewesen. Ihr dünnes Lächeln, das zwitschernde Lachen, das Vergnügen, mit dem sie sich vor dem Abendessen ihren täglichen Sherry gönnte, sogar dieses peinliche Theater mit ihrer Verdauung, all das fehlte Nellie.
Trotz all ihrer Schwächen und Dünkel ist sie meine beste Freundin und ich will sie zurückhaben.
Der Gedanke daran, in Zukunft ohne Grace leben zu müssen, überwältigte sie plötzlich und sie begann zu weinen, leise Schluchzer, die niemand sonst hören würde. Niemand durfte sie weinen sehen, vor allem nicht ihre liebe kleine Viktoria.
14
Jack war nicht danach, den Weg durch die Stadt zurückzulaufen, daher nahm er sich ein Taxi. Der Fahrer versuchte sich ein paar Mal in Small Talk, aber die knappen, grummeligen Antworten vom Rücksitz ließen ihn bald verstummen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sich Jack noch nie so schlecht gefühlt, nicht einmal nach dem Tod seiner Mutter. Er musste mit jemandem reden, aber bestimmt nicht mit einem Taxifahrer.
Jack ließ sich von dem Fahrer an einem kleinen Tante-Emma-Laden in der Nähe seiner Wohnung absetzen. Nick’s Stübchen war ein schmuddeliger Laden, bei dem sich der New Yorker Dreck dauerhaft in den Schaufenstern festgesetzt hatte. Und dem Aussehen nach war auch einiges von dem Dreck durch die Scheiben hindurch in die Lebensmittel dahinter gedrungen. Verblichene Werbeaufsteller für Tode, Cheerio, Gainesburgers und anderes standen da seit Jahren herum und würden dort wahrscheinlich auch noch etliche weitere Jahre stehen. Nick und seinem Laden würde ein gründliches Großreinemachen nicht schaden. Seine Preise waren Wucher, aber der Laden lag auf dem Weg und die Backwaren wurden jeden Tag frisch geliefert – zumindest behauptete Nick das.
Jack wählte einen Entenmann-Streuselkuchen, der nicht zu staubig aussah, warf einen Blick auf das Haltbarkeitsdatum und stellte fest, dass es erst in einer Woche ablief.
»Du bist auf dem Weg zu Abe, was?«, meinte Nick. Er hatte drei Kinne, zwei kleine, die ein großes an seinem Platz hielten, und alle drei konnten eine Rasur vertragen.
»Ja, ich dachte mir, ich müsste dem Junkie seinen Stoff besorgen.«
»Grüß ihn von mir.«
»Mach ich.«
Er ging zur Amsterdam Avenue hinüber und dort zum Isher-Sportartikelgeschäft. Er wusste, er würde Abe Grossman hier finden, der sein Freund und Verbündeter seit den Anfangstagen der Existenz von Handyman Jack war. Abe war einer der Gründe, warum Jack in diese Gegend gezogen war. Abe war ein unverbesserlicher Pessimist. Egal, wie schlimm die Dinge aussahen, in Abes Augen waren sie weit schlimmer. Wenn Abe ihm die Welt erklärt hatte, dann würde sich ein Ertrinkender noch über sein Schicksal freuen.
Jack warf einen Blick durch das Schaufenster. Ein Mann in den Fünfzigern saß auf einem Hocker hinter der Registrierkasse und las in einem Taschenbuch. Er war der einzige Mensch in dem Laden, der für sein Angebot viel zu klein war. Fahrräder hingen von der Decke, Angelruten, Tennisschläger und Basketballkörbe säumten die Wände, während sich schmale Gänge zwischen Heimtrainern, Hockeytoren, Tauchausrüstungen und unzähligen anderen Freizeitgeräten hindurchschlängelten, die in-, durch- und übereinanderlagen. Die Inventur war jedes Jahr wieder ein Albtraum.
»Keine Kundschaft?«, fragte Jack zum Bimmeln der Klingel, das beim Öffnen der Tür erklang.
Abe schielte über die Halbmonde seiner Lesebrille hinweg. »Null. Und ich wette, diese Zahl wird sich auch durch deine Ankunft nicht ändern.«
»Im Gegenteil. Ich komme mit Geschenken in den Händen und Geld in den Taschen.«
»Hast du …?« Abe schielte über den Tresen hinweg auf die weiße Pappschachtel mit dem blauen Schriftzug. »Du hast! Streuselkuchen? Her damit!«
In dem Moment steckte ein großer, bulliger Kerl in einem schmutzigen Unterhemd den Kopf durch die Tür. »Ich brauche eine Schachtel Schrotpatronen Kaliber 12. Haben Sie welche?«
Abe nahm die Brille ab und gönnte ihm einen vernichtenden Blick.
»Mister, vielleicht haben Sie bemerkt, dass auf dem Schild draußen ›Sportbedarf‹ steht. Töten ist kein Sport.«
Der Mann sah Abe an, als hätte der sich gerade in einen Alien verwandelt, und verschwand
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