Hanibal
zu bewahren. Dann werden wir römische Provinz werden, mit einem Statthalter und römischer Besatzung, und sie werden uns zwingen, Latein zu sprechen und unsere alten Einrichtungen aufzugeben.«
Antigonos musterte das glatte Jünglingsgesicht. Das Zucken unter dem Auge war heftiger, merkbarer geworden; über den Zügen des Reeders lag eine kühle Bitterkeit. »Ihr habt euch also neben Rom gestellt, damit ihr nicht sofort, sondern erst in ein paar Jahrzehnten versklavt werdet?«
»So ist es. Und weil wir die Römer so brav unterstützen , dürfen wir jetzt in den von ihnen besetzten iberischen Gebieten handeln. Und« – er hüstelte – »weil wir so treue Freunde sind, stellen sie keine unannehmbaren Forderungen. Sie wissen genau so gut wie wir, daß Hannibal immer noch siegen kann, und daß sie alle Hilfe brauchen.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit nur sagen, Herr der Sandbank, daß man in Rom weiß, daß du hier bist. Und sie wissen natürlich, daß du immer wieder versucht hast, Hannibal Geld und Truppen zu schicken. Aber sie haben deine Auslieferung nicht gefordert. Noch nicht.«
Antigonos trank langsam den abgekühlten Würzwein. »Und wenn sie mich wirklich haben wollen – was dann?«
Oreibasios lächelte. »Dann werden wir der Auslieferung zustimmen und dich fliehen lassen. Unauffällig. Bis dahin…« Er spitzte den Mund und summte leise. »Dein Schiff – zehn Talente in Silber?«
»Zu viel, Herr der Schiffe.«
»Du verkennst die Lage. In diesen Jahren sinken viele Frachter, werden aufgebracht, erbeutet, gehen verloren. Schiffe kosten zur Zeit fast das Doppelte dessen, was man vor dem Krieg zahlen mußte. Und dein Schiff ist besonders gut ausgestattet und besonders seetüchtig.«
Fünf Tage später brachte ein Bote mehrere schwere Lederbeutel zu Antigonos. In seinem bequemen Gefängnis zählte der Hellene die Münzen. Sechs Talente; er wußte nicht, ob Oreibasios eigenes Geld oder Mittel des Rats flüssig gemacht hatte.
Im Frühjahr, fast ein Jahr nach Beginn der Gefangenschaft , kamen Gesandte des römischen Senats nach Massalia. Es war am Tag vor der großen Feier des Frühjahrsbeginns. Arkesilaos besuchte seinen Onkel, zum ersten Mal nach langer Zeit; er war in Eile.
»Morgen findet die Sonnenfeier statt, auf dem freien Platz vor dem Artemistempel.« Er zögerte, sprach absichtlich oder unwillkürlich leiser. »Es wird sich so ergeben, daß ihr einige Zeit ohne Bewachung seid. Oreibasios sorgt dafür. An der östlichen Mündung des Rhodanos wartet zwischen den Schilffeldern ein Schiff. Ihr müßt in den Gauklerkarren steigen, der mit blaugrauem Stoff bespannt ist. Es sind rote Tupfer darauf – ein Dreieck über dem linken Hinterrad.«
Ehe Bomilkar und Antigonos ihm danken oder Fragen stellen konnten, ging er.
Das Fest der Gleichheit von Tag und Nacht wurde in allen Tempeln von Massalia begangen. Einzig die kleine jüdische Gemeinschaft beteiligte sich nicht an den Feiern. Der Platz vor dem Tempel der Artemis hatte keine besondere Bedeutung; er war nur der größte. Die meisten Feiern fanden fast ohne Gläubige statt; Massalia hinterlegte an den vorgeschriebenen Tagen, etwa nach der Ernte, die vorgeschriebenen Gaben und schätzte ansonsten die Götter, weil (und die Priester, wenn) sie sie in Ruhe ließen. Auf dem großen Platz loderten Bratfeuer; die Weinbauern und Weinhändler hatten Stände mit mächtigen Amphoren und großen Holzfässern errichtet. Vor allen Schänken standen rohe Tische und Klötze; die Wirte aus nahegelegenen Straßen beteiligten sich mit Tischgruppen, die wie Brückenköpfe wirkten. Überall Zelte und Buden: Wahrsager, Schlangenmenschen, Erzähler, Schwertschlucker, Gaukler, Ungeheuer. Weitgereiste Tiersammler zeigten ihre seltensten Stücke. In einem Pferch am Rand des Platzes hielten zwei verschnittene Wisentbullen, eine Elefantenkuh und ein paar Schakale Abstand voneinander; daneben, hinter hohen Latten, wanderte ein Leopard im Kreis, fauchte, starrte mit glimmenden Augen in die Menge. In Kästen aus buntem Glas oder gebranntem Ton ringelten sich Giftschlangen; Skorpione glotzten und reckten die Schwänze.
In einem ausgesparten Geviert in der Platzmitte rangen nackte, von Öl und Schweiß glänzende Gallier und Germanen miteinander; wer sein Geld verlieren wollte, konnte einen der wilden Riesen herausfordern. Auf einem Holzsockel stand ein doppelköpfiges Kalb, gehütet von einer rothaarigen Frau mit Schuppenhaut und unendlich aufgedunsenen
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