Hanibal
Schultern. »Hoffnungen? Was sind Hoffnungen? Wir wissen zu gut, wie Rom vorgeht. Und wir kennen die Wunschträume und Fehleinschätzungen des Rats von Karchedon. Zähl beides zusammen – was erhältst du dann?«
Antigonos schwieg.
»Ich will es dir sagen.« Oreibasios beugte sich vor und ergriff mit spitzen Fingern einen Zipfel von Antigonos’ Überwurf.
»Ihr habt den größten Strategen seit Alexandros. Hannibal ist der menschgewordene Ares. Die Alpen, die Schlachten gegen die unschlagbaren Legionen… Seit fast zehn Jahren steht er mit Söldnern aus tausend Völkern in Italien, und keiner von ihnen hat je versucht, ihn zu töten und damit Ehrenbürger der Stadt Rom zu werden. Aber…« Er schüttelte den Kopf.
»Wenn ich Punier wäre, Freund, ich wäre verzweifelt und wahnsinnig vor Wut. Niemand hätte geglaubt, daß Hannibal das gelingen kann, was ihm gelungen ist. Seit Cannae konnte er jedes Jahr, und dieses ist das achte, jedes Jahr konnte er den Krieg entscheiden, gewinnen, Rom niederwerfen. Irgendwann wird er vernichtet oder nach Karchedon zurückgerufen werden, und dann wird es so aussehen, als sei alles nach Cannae nur ein sinnloses verzweifeltes Ausharren gewesen.« Er zerrte an dem Stoffzipfel. »Aber wir wissen, daß es nicht stimmt. Selbst jetzt, nach dem Fall des neuen Karchedon in Iberien, würde ihm eine Flotte und ein gutes Nachschubheer ausreichen.«
»Ich weiß«, sagte Antigonos leise. »Latiner und Etrusker fallen ab, er beherrscht immer noch fast ganz Süditalien. Ein schneller harter Schlag… Aber sie lassen ihn allein.«
»Und deshalb steht Massalia bei Rom, Freund. Nicht nur wegen des alten Bündnisses. Zu Beginn des Kriegs hat es bösen Streit im Rat gegeben. Wir wissen, daß die Punier, so weit entfernt, uns nie beherrschen wollten und es nicht könnten. Unsere Unfreundschaft zu Karchedon ist überliefert; seit Jahrhunderten hassen Hellenen und Punier einander. Es ist sinnlos, aber so ist es nun einmal. Und wir hatten Auseinandersetzungen um Handelsplätze in Iberien, um Schiffahrt im westlichen Meer.«
»Und trotzdem Streit im Rat?«
»Trotzdem, ja. Karchedon zerstört nicht; Karchedon will Handel und Reichtum, Stützpunkte und Einfluß, aber keine festgefügte Herrschaft. Selbst das Reich in Iberien sollte ja nur ein Bollwerk sein. Reichtum durch Handel erwirbt man nicht, indem man die Märkte zerstört und die Handwerker tötet. Rom dagegen will nur herrschen. Irgendwann wird es die Art seiner Kriegführung bitter bezahlen müssen.«
»Meinst du Iberien?«
»Vor allem Italien selbst. Jede Stadt, die sie zurückerobern, nachdem Hannibal sie besessen hat, wird zerstört; die Bewohner werden hingemordet, das Land fällt an Rom. Jedes Jahr seit Cannae haben die Römer im eigenen Land mehr friedfertige Stadtbewohner abgeschlachtet, als sie in der größten aller Schlachten an Kriegern verloren. Wenn der Krieg zu Ende ist, wird es in Italien sehr viele Trümmer geben, verwüstete Felder, entvölkerte Städte. Das Rückgrat eines jeden Staats, der Stand der freien Bauern und halbfreien Pächter, wird nicht mehr da sein. Und Rom, ein Bauernvolk, wird das Land mit Sklaven bebauen. Natürlich hat auch Hannibal plündern lassen, aber neun Zehntel der Verwüstung wurden von den Römern selbst angerichtet. Den sturen trotzigen Bauern, der Rom geprägt hat, wird es nicht mehr geben; damit wird sich auch das Gesicht Roms und Italiens wandeln.«
»Und deshalb Streit im Rat? Habt ihr bei Kriegsbeginn dies alles vorausberechnet?«
Oreibasios lachte. »Es war nicht zu berechnen. Ohne Hannibal wäre der Krieg längst zu Ende, und diesen Mann konnten wir nicht errechnen. Nein, Herr der Sandbank.« Er ließ endlich den Gewandzipfel los. »Wenn Karchedon in jedem Jahr dieses Kriegs nur ein Fünftel seiner Kriegsausgaben zur Stärkung Hannibals verwendet hätte, wäre Rom längst auf seine alten Grenzen zurückgeworfen und durch Verträge gebunden. Oder zerstört. Aber Karchedon hat alles vergeudet, vertändelt, verschenkt, sinnlos geopfert. Und weil wir gewußt haben, errechnet und erwartet haben, daß der Rat von Karchedon genau dies tun würde, haben wir das alte Bündnis mit Rom nicht aufgekündigt. Karchedon war immer ein angenehmer Feind; Rom ist ein grauenhafter Freund.
Karchedon hätte uns nicht geschützt; als wichtigster Freund Roms braucht Massalia keinen Schutz gegen Rom – noch nicht. Vielleicht gelingt es uns, auf diese Weise unsere Unabhängigkeit noch zehn oder zwanzig Jahre
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