Hannahs Briefe
Auseinandersetzung darüber habe schon zu heftigen Wortwechseln geführt und die alten Wunden von der Praça Onze aufgewärmt. Welche Wunden? Dona Rosa gab sich geheimnisvoll: Das würde mir Max dann schon erklären.
Wir sangen ihm ein Ständchen, und ich aß ein Stück Kuchen. Max und seine Frau gaben sich einen Kuss, der ihre Gebrechlichkeit deutlich machte. Danach stellte ich mich, so höflich es ging, als Schriftsteller vor und fragte, ob er mir ein Interview geben könne. »Ich bin beschäftigt, ein andermal.«
Und er war noch monatelang beschäftigt, bis einesTages seine Frau starb. Es gab eine Trauerfeier im Klub, doch ich ging nicht hin, um nicht opportunistisch zu erscheinen. Tatsächlich war ich fasziniert von diesem Mann, ohne wirklich zu wissen, warum. Der Tod seiner Frau nahm ihn so sehr mit, dass er nicht mehr zu den Treffen der Gruppe kam und stattdessen im Park die Kinder ärgerte oder ganze Nachmittage in einem Teich Zierfische beobachtete. Ich versuchte, Kontakt zu ihm aufzunehmen, zum Beispiel tat ich so, als wäre ich ihm zufällig über den Weg gelaufen, und gab ihm meine Visitenkarte. Vergeblich. Max betrachtete die Fische, als existierte alles andere nicht für ihn. Und so war es auch. Max lebte in seiner eigenen Welt, in die niemand eindringen konnte.
Was sollte man tun, man musste es respektieren. Ich verschob meinen Roman und ging regelmäßig zu der Gruppe, die sich selbst, wie ich erfuhr, »Klub der Großmutter« nannte. Es war eine angenehme Atmosphäre, ohne falsche Versprechungen oder politisch korrektes Getue. Ich bekam Geschichten zu hören, erhielt Geschenke und schloss Freundschaften. Ein Mann verriet mir, er habe Getúlio Vargas mit dem Auto mitgenommen, nachdem dieser bei einem Unfall zwischen Rio und Petrópolis fast ums Leben gekommen sei. Ein Stück Fels hatte sich vom Abhang gelöst und den Wagen des Präsidenten getroffen, sein Berater war dabei auf dem Vordersitz tödlich getroffen worden. Um Haaresbreite hätte es auch Vargas erwischt. Das war noch vor dem Estado Novo und dem Zweiten Weltkrieg gewesen. Einen Meter weiter, unddie Geschichte Brasiliens wäre eine andere gewesen. Hatte das jemand gewusst? Ich nicht.
Am Ende wurde ich in den Klub aufgenommen. Manchmal störte es mich, zu sehen, wie diese Menschen in eine Ecke geschoben wurden, als wäre das Alter eine Frage der Zugehörigkeit und nicht bloßer Zufall. Abgesehen davon war hier genau deswegen niemand alt, weil alle alt waren. Es fehlten die Gegensätze und Maßstäbe von außen, die sie erst alt machten, deswegen sprang einem ihre tatsächliche Verschiedenheit ins Auge. Im Zusammenleben mit Menschen, die so lebenserfahren und so einzigartig waren, offenbarte sich etwas, das die Jungen nicht erkannten und sich auch gar nicht die Mühe machten, zu erkennen. Es war eine großartige Lektion für jemanden wie mich, der im Alter das Vorzimmer zum Tod sah. Sobald jemand erkältet war oder zu einem Treffen nicht erschien, hatte ich sofort ein schlechtes Gefühl. Aber es starb niemand dort. Ein Bekannter wies mich klugerweise darauf hin, dass die Alten nur deswegen alt sind, weil sie nicht einfach sterben. Er hatte recht. Wie viele Großeltern wollten nicht loslassen, was ihre Kinder und Enkel so leichtherzig hergaben?
Während Max seine Fische betrachtete, widmete ich mich einer Erzählung, zu der mich Rosa Schneider, die Sprecherin vom »Klub der Großmutter«, inspiriert hatte. Sie war Schauspielerin im Jiddischen Theater an der Praça Onze gewesen. Dona Rosa sagte: Ein Künstler stirbt nicht, er tritt von der Bühne ab. Ständig erzählte sie Witze oder sang Lieder von früher. Ich bekamvertrauliche Informationen und Auszüge aus einem Theaterstück, das sich heute in meiner Obhut befindet ( Das Große Glück von Scholem Alejchem). Nach Dona Rosas Verehrern, die nicht wenige und auch nicht irgendwer waren, wurden später Straßen, Plätze und sogar Flughäfen benannt. Und als ich die Geschichte fertig hatte, genau an dem Tag, an dem die aufgeweckte Dame die endgültige Version prüfte, klingelte mein Handy, und eine heisere Stimme fragte, ob ich noch Interesse habe, mit Senhor Kutner zu sprechen.
»Kutner?«, fragte ich überrascht.
»Ja, genau, Max Kutner, das bin ich.«
Das erste Treffen fand an einem kühlen, bewölkten Sonnabend statt. Max wohnte zwei Straßen vom »Berg Sinai« entfernt und zeigte sich plötzlich entgegenkommend, ja fast gastfreundlich. Beim zweiten Treffen fing er an zu erzählen, und
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