Hannahs Briefe
Der Leutnant blieb vor einer massiven Stahltür stehen und holte ein Schlüsselbund hervor. Riegel wurden zurückgeschoben. Max nahm einen nicht nur unerträglichen, sondern auch merkwürdigen Geruch wahr – eine Mischung aus Urin und Blumen? Was war das? Sie gingen hinein und traten auf Scherben und Blut. Eine gelbe Glühbirne hing flackernd von der Decke. Staub erklärte, ein Mann habe sich soeben mit einem kaputten Parfümfläschchen das Leben genommen.
»Die Frau hat überlebt.«
Der Schuhmacher stieß ein kurzes Gebet aus, dann erstarrte er. Vor ihm auf dem Boden krümmte sich eine Frau, ihre Kleidung war zerfetzt, über ihre Brust lief ein Schnitt, die Beine waren mit blauen Flecken und Abschürfungen übersät, und die verklebten Haare bedeckten ihr Gesicht. Max wandte sich ab, bis er auf einmal einen gellenden, animalischen Schreivernahm, ein schrilles Jaulen, das ihm fast das Trommelfell zerriss. Die Kinnlade klappte ihm herunter, und das Blut gefror ihm in den Adern, bevor ihn eine Gewissheit überkam, wie sie tragischer und absurder nicht hätte sein können.
Es war Guita, die dort vor ihm lag.
Max erzählt
»Es war Guita.«
Max seufzte und lehnte sich in seinem beigefarbenen Sessel zurück. Die Sonne drang durch das Fenster und betonte seine Augenringe. Insgesamt strahlte sein Gesicht eher etwas Sanftes aus. Ich versuchte, mir die Überraschung nicht anmerken zu lassen. Warum Guita? Was hatte sie dort zu suchen? Er nahm einen Schluck Kaffee.
»Es war Guita.« Den Blick ins Leere gerichtet, wiederholte er ihren Namen. »Guita …«
Max’ blasses Äußeres entsprach seinem Zuhause, wo er jetzt allein wohnte. Der beigefarbene Sessel war früher vielleicht einmal braun oder grün gewesen. Die Zeit hatte nicht nur ihm die Farbe genommen, sondern auch den Teppich, die Kissen, den Vorhang und das Sofa, auf dem ich saß, ausgebleicht. Die enge Wohnung lag in der Rua Mariz e Barros in Tijuca. Zweieinhalb Zimmer, Bad und Küche, in der er den Filterkaffee gekocht hatte, den wir jetzt langsam tranken. Es war unser fünftes Treffen. Auf dem Tisch lag ein Bild von den Kutners, in fortgeschrittenem Alter, auf einer Parkbank. Souvenirs aller Art – kleine Statuen, Kaffeetassen und Aschenbecher – standen aufeinem Regal. Auf einem anderen die Encyclopaedia Judaica . Ein paar alte Schlüssel und zwei Zeichnungen hingen an der Wand. An den Türschwellen war der ausgebleichte Teppich mit goldenen Metallplättchen befestigt, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht gesehen hatte. Das Telefon stand auf einem kleinen Tisch direkt neben einer Bank, unter der zwei alte Telefonbücher lagen.
»Es war Guita.«
Ich beobachtete Max mit ehrfürchtigem Interesse, musterte seine Falten und suchte, wie es ein Autor nun mal tut, nach Worten, um ihn zu beschreiben. Ich durfte mir weder Notizen machen noch etwas aufnehmen oder seine Aussagen weiterverbreiten, aus Respekt gegenüber den Menschen, die eventuell noch lebten oder Kinder hinterlassen hatten und es verdienten, in Frieden zu ruhen. Es war kein Geheimnis, dass ich vorhatte, einen Roman zu schreiben, und Max unterstützte mich darin, solange er erst nach Ablauf von zehn Jahren veröffentlicht würde. Ich wollte die Frist verkürzen und versprach, Namen und Details zu ändern und so seine Privatsphäre zu schützen, aber er verschränkte die Arme vor der Brust und sagte, zehn Jahre und keinen Tag weniger. Seine Geschichte sei »unverwechselbar«. Und das war sie tatsächlich.
Kinder hatte er keine. Und auch keine Neffen, Geschwister oder Schwager. Er hatte als Schuhmacher gearbeitet, bis er Witwer wurde und schließlich die Kraft verlor.
»Es war Guita«, schluchzte er jetzt ganz leise undschürte damit meine Neugierde. Was bitte hatte Hannahs Schwester in diese entwürdigende Situation gebracht, angekettet in einer verdreckten Zelle zu liegen? Ich wagte es nicht, danach zu fragen. Auf keinen Fall wollte ich ihn drängen oder sonst irgendwie auf ihn einwirken. Wozu den Lauf des Wassers lenken, wenn es bisher so reichlich geflossen war?
Max war ohne Zweifel ein begabter Erzähler. Er machte Pausen, gestikulierte und riss die Augen auf, um seinen Ausführungen Nachdruck zu verleihen. Unser letztes »Schwätzchen« – so nannte er unsere Treffen – hatte die ganze Nacht in Anspruch genommen, und als ich auf der Straße stand, war es hell. Zu Hause tippte ich alles in den Computer, bevor oder nachdem ich in die Nationalbibliothek ging, um in den Zeitungen aus der Ära
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