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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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Vargas zu recherchieren. Alles stimmte mit den Erzählungen des Schuhmachers überein, sogar die Werbung.
    Ich war voller Euphorie, endlich nahm mein Buch Gestalt an! Dank Max, den das Schicksal und ein klein wenig Disziplin mir gesandt hatten.
    Aber um zu erklären, wie es so weit kam, muss ich ein wenig in der Zeit zurückgehen. Dahin, wo alles anfing.
    Es war das Jahr 1999, als ich beschloss, einen Roman zu schreiben, der in gewisser Hinsicht das 20. Jahrhundert nacherzählen sollte. Zwei Liebende, vielleicht verheiratet, deren Wege über Jahrzehnte hinweg von historischen Ereignissen bestimmt waren – mal alsOpfer, mal als Zeugen oder Repräsentanten ihrer Zeit. Ein ambitioniertes, aber nicht sehr originelles Vorhaben. Zum Ende jenes Jahrzehnts, Jahrhunderts und Jahrtausends erlebte die Welt einen Ausbruch epischer Ergüsse. Bis zum sagenhaften Jahr 2000 waren es nur noch wenige Monate, und in der Presse, in den Buchläden und in den Unterrichtsräumen wimmelte es von apokalyptischen Prophezeiungen. Fernsehkommentatoren brachten das Mittelalter und die vergangene Woche in einen Zusammenhang, als wären sie direkt aufeinandergefolgt. Geistliche, Turban tragende Astrologen, Intellektuelle und Kosmetikerinnen, alle hatten etwas beizutragen. Und Prognosen abzugeben.
    Also gut. Inspiriert von dieser Bewegung, sammelte ich Berichte von alten Menschen, die mir helfen würden, die Vergangenheit zu verstehen. Ich ging in Klubs, auf öffentliche Plätze, in Altenheime und Wohnungen. Mein erster Interviewpartner war meine Großmutter, die als Zwanzigjährige aus Lettland gekommen war und als Haushälterin des Expräsidenten Artur Bernardes in São Paulo gearbeitet hatte. Meinen Großvater lernte sie 1932 bei einem Umzug auf der Avenida Rio Branco kennen. Als Zweiten befragte ich einen Onkel, der während der Oktoberrevolution (zu der er sich nur flüsternd äußerte, um keine »Probleme mit der Polizei« zu bekommen) aus der Ukraine geflohen und 1918, während der großen Welle der spanischen Grippe, in Rio gelandet war. Und er erinnerte sich, genauso fassungslos wie damals als Junge, an dieLeichen, die von den städtischen Leiterwagen eingesammelt wurden. Ich war in drei jüdischen Altenheimen. Im ersten erklärte mir ein neunzigjähriger Lehrer bis ins Detail, wie er 1942 aus dem Warschauer Ghetto entkam, unter anderem, indem er eine Operation vorschob, um seine Beschneidung vor den Nazis zu verbergen.
    Es ist beeindruckend, mit welcher Selbstverständlichkeit ältere Menschen über Personen und Ereignisse sprechen, die für junge Leute enzyklopädische Legenden sind. Vargas, Lenin, Hitler, Einstein. In weniger als einem Monat hatte ich einen ganzen Stapel Kassetten aufgenommen und genug erfahren, um mich halbwegs als Spezialisten bezeichnen zu können. Ich war zufrieden, klar, aber mir fehlte ein Aufhänger, der entscheidende Antrieb für den ersten Schritt.
    Ein Bekannter schlug mir vor, in den Berg-Sinai-Klub in Tijuca zu gehen, wo sich jeden Dienstag eine Gruppe von Senioren traf. Ein Mitarbeiter führte mich in einen riesigen Saal, in dem hinter einem Wandschirm fünfzehn bis zwanzig Personen an einem reich gedeckten Tisch saßen und nicht nur äußerst gesprächig, sondern auch sehr elegant gekleidet waren, zumal sie etwas zu feiern hatten. Dona Rosa Schneider, die Sprecherin der Gruppe, erklärte mir, einer der Anwesenden feiere seinen hundertsten Geburtstag. Und das rüstige und geistig vollkommen klare Geburtstagskind verteilte Papierhütchen an die Gäste. Höchst beeindruckt setzte ich meines auf. Der Mannwar der Inbegriff des Lebens und nicht seines Endes, tadellos gekleidet in einem marineblauen Blazer mit seidenem Einstecktuch. Ich hätte ihn für höchstens achtzig gehalten, was einem wahrscheinlich wie ein Witz vorkommt, wenn man sich diese Generation als eine Herde runzliger Alter mit Spazierstock vorstellt. Kurz darauf schob der Hundertjährige einen Rollstuhl in den Saal, in dem die Frau saß, mit der er seit sechs Jahrzehnten verheiratet war. Sie konnte kaum die Arme bewegen in ihrem roten Blumenkleid und wirkte gesundheitlich ziemlich angegriffen. Dona Rosa erzählte, der Tausch der Ringe sei damals ein »gewagter« Schritt gewesen und von den Rabbis nie anerkannt worden. Aber warum gewagt? Das solle ich Max fragen. Manche Leute empfänden es eben immer noch als »Provokation«, mit jemandem zusammenleben zu müssen, mit dem sie in der Vergangenheit nichts hatten zu tun haben wollen. Die

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