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Hannahs Briefe

Hannahs Briefe

Titel: Hannahs Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ronaldo Wrobel
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ihre Fassungslosigkeit mit Wein hinunterschüttete. Ach, wie weh das tat! Er würde sie nie wiedersehen!
    Auf seine Frage, ob jemand an Bord an Intuition glaube, sah der Polizist Max verwundert an.
    »Bei der Polizei glauben wir weder an Mysterien noch an Zufälle, bevor wir nicht versucht haben, etwas zu erklären.«
    »Kennt ihr die Geschichte vom Licht und vom Schatten?«, fragte der Pilot. »Eines Tages sagte das Licht zum Schatten: ›Ich habe die Macht, ich bin hübsch und bezaubernd. Du hingegen existierst nur meinetwegen, denn wenn alles dunkel wäre, bräuchte man auch nirgends Schatten.‹ Der Schatten gab dem Licht recht, mit einer Einschränkung: ›Sie können auch etwas von mir lernen, werte Frau Licht. Wenn ich einerseits zwar nur Ihretwegen existiere, weise ich andererseits doch darauf hin, dass Sie, obwohl Sie sohübsch und bezaubernd sind, doch nicht überallhin gelangen.‹« Der Pilot drehte sich zu Max um. »Die Vernunft leuchtet hell, aber sie gelangt nicht überallhin.«
    Als sie in Santos landeten, war es Mitternacht. Ein Lieferwagen hielt neben dem Flugzeug und fuhr dann mit Max vorbei an Lagerhallen, wo es nach Kaffee, Schlamm und Teer roch. Vor einem Gebäude mit Milchglasscheiben blieben sie stehen, und Max wurde in eine Eingangshalle geführt, wo vier Obdachlose auf eine Bank gequetscht saßen. Am Empfang standen eine Schreibmaschine, ein Ventilator, ein Angestellter und ein schwarzes Telefon. Max bat darum, telefonieren zu dürfen, aber der Mann am Tresen antwortete ihm nicht. Von der Wand aus bewachte Präsident Vargas die Obdachlosen, die, das bemerkte Max erst jetzt, mit Handschellen aneinandergekettet waren. Einer von ihnen rauchte und zwang so seinen Nachbarn, die Hand mit ihm zu heben.
    Leutnant Staub trat hinter einer Tür hervor, begrüßte Max energisch und entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten. Er führte den Schuhmacher in ein Wartezimmer und bat ihn ohne eine Erklärung, auf dem Sofa Platz zu nehmen, er sei gleich wieder da. Dann war er verschwunden. Was war hier los? Was war so dringend? Max hörte Quietschen und Schritte, die an den Wänden widerhallten. Er kannte die Akustik von Polizeiwachen, das Rasseln der Eisenschlüssel, deswegen war es auch keine Überraschung, als sich eine Tür öffnete und vier Polizisten hereinkamen,in ihrer Mitte das Ehepaar Braun. Da war er, der verfluchte Deutsche! Das war also der sogenannte Haifisch, der der Spionageabwehr ins Netz gegangen war! Wer auch sonst, wenn nicht er, hätte ihn erneut von Hannah trennen sollen? Wie ein von Taubenmist verdreckter Koloss sah er aus in seinem blauen Anzug, das Haar ungekämmt, den Blick gesenkt. Marlene hingegen, die Arme, wirkte in ihrem Strickjäckchen wie ein Geist. Sie war eine anständige Frau, ein Opfer des Zufalls wie Max, auf Irrwege geraten, eine Sklavin ihrer Liebe, die ihr vermutlich sehr viel größere Prüfungen abverlangte als die Vernehmungen durch die Polizei. Max dachte an São Lourenço, ihr komplizenhaftes Schweigen und die Gefühlsausbrüche in jener Nacht, als sie im Hotel Metrópole eine Zigarette nach der anderen geraucht hatten.
    Nein, der Schuhmacher war nicht auf Rache aus und hätte eine Begegnung lieber vermieden. Er hatte nicht seinen besten Anzug angezogen, um sich mit einem gebrechlichen Nazi herumzuschlagen. Eine insgeheime Schadenfreude konnte er jedoch nicht leugnen, aber die war auch nötig, um all die Dämonen zu vertreiben, die sich seit São Lourenço in ihm tummelten. Am liebsten hätte er ihn vergessen, wäre er nicht drei Stunden geflogen und hätte eine unaufschiebbare Verabredung verpasst, nur um ihn zu verhören. Max stand auf, lief im Kreis, fing an zu schwitzen. Er rückte seine Krawatte zurecht und nahm den Kaffee entgegen, den ihm jemand brachte. Nein, er war nicht froh, er ergab sich lediglich in sein Schicksal, bereitfür seinen Dienst am Vaterland. Anders gesagt, er wäre noch sehr viel weiter geflogen, um diesem Nazi eine Lektion zu erteilen und ein paar Dinge klarzustellen. Spinoza, Aristoteles, Nietzsche! Viel Spaß im Gefängnis mit deinen Almanachen, verfluchter Arier!
    »Entschuldigen Sie nochmals!« Staub brüllte fast vor Euphorie und rieb sich den Hals. »Ich bitte tausendmal um Entschuldigung! Kommen Sie mit.«
    Sie liefen eine Rampe hinunter und kamen in einen Gang mit feuchten, muffigen Zellen. Max sah die Insassen nicht, aber da er seine Ohren nicht verschließen konnte, hörte er ihr Stöhnen und ihr grauenerregendes Schluchzen.

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