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Hannas Entscheidung

Hannas Entscheidung

Titel: Hannas Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Rachfahl
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Fragst du dich nie, was hier alles passiert ist? Welche Lügen erzählt, welche Intrigen geschmiedet oder welche Tränen vergossen wurden? Oder auch im Gegenteil: Wie viele Liebesschwüre haben die Mauern gehört?« Er wagte sich mit seiner letzten Frage auf gefährliches Terrain vor, aber es war zu spät, die Worte zurückzunehmen.
     
    Hanna hob den Kopf und sah Bens Gestalt an der Brüstung an. Seine Stirn nachdenklich gerunzelt musterte er die Mauern, die Augen auf die Vergangenheit gerichtet. Sein spöttisches Lächeln war verschwunden. Sie hätte wissen müssen, dass Ben solche Fragen stellen würde. Dass ihn die Geschichte eines Ortes genauso in den Bann zog wie sie. Er gehörte nicht zu den Menschen, die blind durch die Welt liefen. Im Gegenteil, es war eine tiefe Überzeugung, die ihn zum Soldaten machte, und das fand sie viel gefährlicher, als wenn jemand sich aus Abenteuerlust für so einen Job bewarb. Ben glaubte daran, dass er die Welt besser machte, weil er sie als Soldat beschützte. Die Welt, ein Körper voller Krebsgeschwüre, und er der Arzt, der sie mit scharfer Klinge entfernte. Manchmal war der Schnitt nicht exakt, und gesundes Gewebe wurde mit entfernt. Störte ihn das? Belastete der Tod von Unschuldigen sein Gewissen? Ihrer beider Weltanschauungen hätten nicht weiter auseinanderliegen können. Hanna glaubte an das Gute im Menschen, an die Sünde und vor allem an ihre Vergebung. Für Ben gab es keine Vergebung, sondern nur gerechte Strafe. So wie er dort stand, fühlte Hanna mit aller Macht die tief gehende Liebe, die sie für ihn empfand. Wie gern hätte sie ihn in ihre Arme gezogen, geküsst und ihm seine Einsamkeit genommen, nur einmal sein Gesicht berührt und für einen Moment vergessen, wer er war. Sie wusste, dass seine Hände nicht nur töten, sondern unglaublich zärtlich sein konnten. Er war die pure Versuchung, ihre zweite Hälfte, aber sie nicht die seine. Sie presste die Lippen zusammen, versuchte ihre aufwallenden Gefühle zurückzudrängen. Ein körperlicher Schmerz durchzog sie, weil sie ihn nicht berühren durfte. Er wandte sich zu ihr um, als könnte er einen Hauch der Emotionen spüren, die sie durchzogen. Sie löste ihren Blick und senkte ihn konzentriert auf das Blatt Papier, aber der Moment, in dem sie sich in der Engelsfigur verloren hatte, war unwiderruflich vorbei.
    Er schlenderte zu ihr herüber. Hanna stand auf, ging zu der Glocke und vergrößerte so die Entfernung zu ihm. Mit leiser Stimme fing sie an zu erzählen: »Beatrice Cenzi war eine römische Patrizierin. Ihr Vater, Francesco, war bekannt für seine Ausbrüche voller Gewalt. Er sperrte sie mit ihrer Stiefmutter auf einem Landgut außerhalb der Stadt ein, misshandelte sie. Ohne Hoffnung, ihrem Martyrium zu entfliehen, entschieden sich die Frauen, Francesco Cenzi zu töten. Beatrice, die selbst nicht in der Lage war, etwas Derartiges zu organisieren, bat ihren Bruder Giacomo um Hilfe. Gemeinsam mit einem Attentäter gelang es ihnen, den Vater zu vergiften, doch sein Tod erweckte Aufsehen und führte zu Untersuchungen. Am Ende ließ der Papst die Familie inhaftieren. Beatrice wurde am elften September 1599 mit zweiundzwanzig Jahren hier auf dem Innenhof zusammen mit ihrer Stiefmutter enthauptet. Die Glocke läutete und verkündete ihren Tod.«
    Hanna schloss die Augen, hörte den Klang der Glocke, sah die Angst in den Augen von Beatrice Cenzi, als diese den Kopf für die Axt senkte. »Tod führt immer zu weiterem Tod. Egal wie gerecht er erscheint.« Doch wer ist der Schuldige, dachte sie still weiter. Beatrice, die ihrem Leid durch einen in Auftrag gegebenen Mord ein Ende bereiten will? Der Bruder, der ihn durchführt? Der Vater – Ursache allen Leidens? Die Gesellschaft, die es nicht möglich gemacht hat, dass die Frauen dem Leid anders hätten entfliehen können?
    Hätte sie Armin Ziegler töten können? Den Auftrag dazu geben können wie die römische Patrizierin? Nein, ihre Situation erschien ihr nicht annähernd vergleichbar mit der von Beatrice Cenzi, und dennoch fühlte sie sich ihr verbunden. Sie hatte die Oper schon so oft gesehen, und noch immer berührte sie die Geschichte wie beim ersten Mal.
    »Woher kennst du die Geschichte?«
    Der Tonfall in Bens Stimme klang seltsam beunruhigt. Hanna öffnete die Augen, wischte schnell die Feuchtigkeit weg. »Sie ist kein Geheimnis. Du findest sie in Büchern und Opern verarbeitet. Die Familie war angesehen, und in der römischen Bevölkerung galt die Tat als

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