Hannas Entscheidung
Information nicht herangekommen. Er wollte nicht, dass Paul seinetwegen in Schwierigkeiten geriet.
»Bist du in seinem Auftrag hier?«
»Können wir das Verhör auf der Straße beenden und uns eine nettere Umgebung für das Gespräch aussuchen?«
»Nein.« Sie drehte sich um und ging weiter.
Zum Glück behielt sie das langsamere Tempo bei. Am Anfang der Brücke, die über den Tiber führte, blieb sie stehen, holte ihre Kamera hervor und begann Fotos zu machen, beim Blick durch ihr Objektiv völlig auf das Motivkonzentriert. Stundenlang hätte Ben sie bei ihrer Arbeit beobachten können. Er wandte den Blick von ihr ab auf das Motiv, betrachtete das runde Gebäude am anderen Ufer. Er versuchte, die Festung mit Hannas Augen zu betrachten. Was sah sie darin? Welches Geheimnis entlockte sie dem Gebäude? Die Welt über die Bilder von Hanna zu entdecken, das eröffnete eine völlig neue Blickweise auf all das, was einen umgab. Eine einfache Blume konnte zu einem Wunder an Farbe, Struktur und Leuchtkraft werden, das Gesicht einer alten Frau, mit tiefen Runzeln und zahnlos, zu einer Geschichte über das Leben in einem Land.
Ben runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen für einen besseren Fokus. »Soll das auf der Spitze des Gebäudes ein Engel sein?«
»Castel San Angelo – Engelsburg«, spottete Hanna.
Ben hatte nie Latein gelernt, doch Angelo, das war nicht weit entfernt von Engel oder Angel. Englisch gehörte durchaus zu den Sprachen, die er beherrschte. Er spürte, wie ihm Röte ins Gesicht stieg. Wie dumm, natürlich musste das Gebäude von irgendwoher seinen Namen bekommen haben. Sie nahm die Kamera vom Auge und sah ihn amüsiert an.
»Ursprünglich war es ein Mausoleum, gebaut für den Kaiser Hadrian.«
Ihn zu belehren, schien ihr zu gefallen. »Und der ließ sich einen Engel auf die Spitze bauen, der seinen Tod bewachen sollte?«, hakte Ben interessiert nach.
»Nein, der Engel kam erst später auf das Mausoleum. 590 nach Christus wütete eine Pest in Rom. Angeblich hat Papst Gregor I. über dem Grabmal eine Erscheinung des Erzengels Michael gesehen, der das Schwert des göttlichen Zorns in die Scheide steckte und somit das Ende der Pest verkündete. Tatsächlich ging die Pest zu Ende. Aus diesem Grund gibt es auf dem Dach die Bronzefigur des Erzengels Michael und aus dem Hadrianeum wurde das Castel San Angelo.«
Wow, Ben konnte sich nicht erinnern, wann sie freiwillig so viel geredet hatte. Sie ließ die Kamera um ihren Hals hängen, schulterte den Rucksack und betrat die Brücke. Ein Engel, der sein Schwert schwingt, dachte Ben und betrachtete die Figur auf dem Gebäude nachdenklich.
Bevor er Hanna begegnet war, hatte Ben in der Religion lediglich den größten Auslöser für Kriege gesehen. Egal, in welches Krisengebiet ihn sein Job führte, fast immer ließen sich die Konflikte auf drei wesentliche Ursachen reduzieren: Religion, Zugang zu oder Mangel an Rohstoffen und Machtbesessenheit, häufig gepaart mit einer Form von Größenwahn. Bei Hanna hatte er zum ersten Mal erlebt, wie der Glaube einem Menschen die Kraft verlieh, mit seelischen und physischen Verletzungen fertig zu werden.
Hanna war in ihrem Zorn durchaus schlagkräftig, was er am eigenen Leib zu spüren bekommen hatte. Gleichzeitig gab es etwas an ihr, das er mit Worten nicht beschreiben konnte. »Ich bin das Licht der Welt« hatte sie an ihrem Oberarm eintätowieren lassen. Es war ein Bibelzitat, wie er inzwischen wusste. Noch ein Geheimnis, das er nicht verstand. Er hatte Gesetze übertreten, um zu ihr zu kommen und er hatte keine Ahnung, was sein Oberst tun würde, wenn er erfuhr, dass er sich hier bei Hanna in Rom befand. Zum Glück war sein Vorgesetzter mit anderen Dingen beschäftigt und er selbst offiziell bei seiner Schwester, Dr. Elisabeth Jung, in Berlin. Tatsächlich hatte ihm der Oberarzt im Militärkrankenhaus erst erlaubt zu fliegen, nachdem er den Namen seiner Schwester hörte. Es überraschte Ben immer wieder, welchen Ruf Lisa in so jungen Jahren in Fachkreisen besaß.
Hanna bewegte sich von Engel zu Engel über die Brücke, und er folgte ihr langsam.
»Wieso hat der Engel ein Tuch in der Hand?«, rutschte ihm die nächste Frage über die Lippen.
»Alle Engel auf der Brücke tragen ein Symbol aus der Passionsgeschichte von Jesus.«
»Passionsgeschichte?«
Seufzend nahm Hanna die Kamera vom Auge. »Die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu.«
»Ach, so.« Ben betrachtete seinerseits die Engel einzeln und
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