Hannas Entscheidung
berechtigte Notwehr. Die Hinrichtung beschädigte das Ansehen des Papstes schwer.«
»Die Verurteilung geschah durch die Kirche?«
»Ja.«
»Weshalb? Gab es zu der Zeit keine staatliche Judikative in Rom?«
»Nein, Rom war zu dieser Zeit ein Kirchenstaat«, erklärte Hanna brüsk und packte ihre Sachen zusammen. Die Uhr zeigte auf eins, und sie wollte der Vergangenheit nicht noch mehr Platz einräumen. Die Geschichte Roms war voller Leiden, aber auch voller Hoffnung. Die Menschheit brauchte beides in gleichem Maße. Ohne darauf zu achten, ob Ben ihr folgte, schulterte sie ihren Rucksack und verließ die Engelsburg.
Erst, als sie einen der zwei Brunnen auf dem Petersplatz erreichte, hielt Hanna an. Ben war ihr schweigend gefolgt. Er versuchte zu verarbeiten, was er für einen Moment wie eine Vision vor sich gesehen hatte: eine junge Frau, von Angst darüber erfasst, was ihr bevorstand. Die niederkniete, ihr Haupt senkte, bereit für die Axt des Henkers. Den metallischen Geruch des Bluts in der Nase, dort, wo kurz zuvor die Stiefmutter ihren Kopf verloren hatte. Ben kannte diesen Geruch von frischem Blut. Wie konnten Worte aus Hannas Mund so lebendig werden? Sein Geist wandte sich der Gegenwart zu, als sein Magen sich vor Hunger schmerzhaft zusammenzog.
»Darf ich dich zum Essen einladen?« Er wusste, dass Hannas Mittel äußerst begrenzt waren. Allerdings machte er sich keine Hoffnung, dass sie seine Einladung annahm. Sie wollte ihm nichts schuldig sein, auch das wusste er. Aber sein Magen knurrte. Sie schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Stufen des Brunnens und deutete auf eine Stelle neben dem Rucksack. Gehorsam setzte er sich. Aus ihrem Rucksack kamen nach und nach Brote, Äpfel und Bananen zum Vorschein sowie eine Flasche Wasser. Genug für sie beide. Er betrachtete das Essen, das sie vor ihnen ausgebreitet hatte.
»Isst du immer so viel?«
»Nein.«
»Du hast mit mir gerechnet? Du wusstest, dass ich auf dich warte?«
Ihre Augen streiften flüchtig sein Gesicht. Sie rückte ein wenig von dem Rucksack ab und entfernte sich so ein Stück von ihm. »Ich hatte so eine Ahnung, nachdem ich dein Geschenk ausgepackt hatte. Übrigens danke, auch wenn es mir schon gehört. Hast du es Marie geklaut?«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil sie es dir freiwillig niemals gegeben hätte.«
In der Tat war er vor einigen Monaten in das Haus von Marie eingebrochen, als er seine Schwester besuchte. Warum er das machte, hatte er damals selbst nicht verstanden. In dem zweiten Raum im Keller hatte er die Überreste von Hannas Habseligkeiten gefunden, die wenigen Möbel aus der Wohnung und ein paar Kartons mit ihren Sachen, ordentlich beschriftet – die erste Ähnlichkeit, die er bei den Schwestern feststellen konnte. Es stellte für ihn eine Kleinigkeit dar, zu finden, wonach er suchte – das Buch ihres Vaters mit den Fotos. Sorgsam hatte er alles andere wieder in den Kartons verstaut. Seitdem hatte er das Buch mit sich herumgeschleppt – ein Stück von Hanna, etwas, das ihr viel bedeutete, von einem Menschen, der sie geliebt hatte.
Während sie aßen, ließ Ben seinen Blick über den Petersplatz schweifen, der voll mit Touristen war. In der Mitte stand ein Obelisk. Der Platz selbst war eingerahmt von Kolonnaden, auf denen an die drei Meter hohe Statuen standen. Ein beeindruckender Anblick. Er sah die Videokameras, die den Platz überwachten, und fragte sich, ob sie gerade gefilmt wurden. Der Vatikan war, soweit er wusste, ein selbstständiger Staat in Italien mit eigenen Polizeikräften. Hier befand sich die Machtzentrale der christlichen Kirche, deren Einfluss weit in die Welt reichte. Er war diesem Machtzentrum noch nie so nah gewesen. »Ein Obelisk im Zentrum des Platzes. Ziemlich ungewöhnlich, ich würde hier eher ein Kreuz erwarten.«
»Kriegsbeute der Römer.«
»Auf einem christlichen Platz ein Machtsymbol des alten Ägypten zu sehen, besitzt eine gewisse Ironie.«
Hanna zuckte mit den Achseln. »Es ist nicht die einzige Beute aus anderen Religionen und Kulturen. Das Vatikanmuseum ist voll davon, und niemand kennt alle Stücke.«
Ben hob amüsiert die Augenbrauen. »Du trägst das Kreuz, hast dich in einem Kloster vergraben, hältst dich an die Zehn Gebote und sprichst so respektlos von der Machtzentrale deines Glaubens?«
Hanna nahm einen Schluck aus der Wasserflasche.
»Petrus war der Fels, auf dem Jesus seine Kirche baute. Vielleicht ist seine Wahl nicht besonders klug gewesen.«
Etwas an dem
Weitere Kostenlose Bücher