Hannas Entscheidung
versuchte herauszufinden, welches Symbol sie trugen. Seine Mutter war Katholikin gewesen, doch das hatte ihr nicht das Leben gerettet, als sie bei einem Überfall in der Botschaft getötet worden war. Im Gegenteil. Weil sie ein goldenes Kreuz um den Hals trug, wählten die Fanatiker sie zum Sterben aus. Es war ein Symbol für die Überlegenheit des Islams über das Christentum. Damals war Ben fünfzehn gewesen, seine Schwester Elisabeth dreizehn. Er hatte sich mit seiner Schwester aus der Botschaft schmuggeln und die Polizei alarmieren können. Ein Sonderkommando hatte die Geiselnahme beendet. Danach hatte sein Entschluss festgestanden, Soldat zu werden. Lisa war Ärztin geworden. Auch ihr Berufswunsch entsprang dem traumatischen Ereignis. Sie hatten an dem Tag Menschen an ihren Verletzungen sterben sehen, ohne dass sie irgendetwas hätten tun können. Lange Zeit war Lisa mit »Ärzte ohne Grenzen« unterwegs gewesen. Genauso wie er riskierte auch sie oft ihr Leben, um andere Menschen zu retten. Ihre Tante, die Schwester ihrer Mutter, hatte immer wieder versucht, sie beide davon zu überzeugen, dass es andere Möglichkeiten gab, der Welt von Nutzen zu sein. Lisa, inzwischen mit einem Arzt verheiratet, hatte eine chirurgische Gemeinschaftspraxis in Berlin. Wenigstens konnte seine Tante seitdem ruhiger schlafen.
Bens Mutter war nur selten mit ihnen in eine Kirche gegangen. Er kannte Weihnachten und Ostern als Feiertage, doch damit war seine Kenntnis über die christlichen Lehren bereits erschöpft, mit Ausnahme derer, die zu Kriegen geführt hatten. Von einer Passionsgeschichte hatte er nichts mitbekommen.
Sie hatten die Engelsburg erreicht. Hanna zog einen Studentenausweis hervor. Ben zückte seine Geldbörse, um für sie beide den Eintritt zu bezahlen, aber Hanna kam ihm zuvor. Der italienische Kassierer warf ihm einen Blick zu, der deutlich zeigte, dass ein Italiener nicht eine Frau bezahlen lassen würde. Ben zuckte grinsend die Schultern und folgte Hanna, die ihre Kamera zurück in den Rucksack gepackt hatte.
Als Erstes machten sie einen Rundgang durch die Wehranlagen der Burg. Bens Aufmerksamkeit war sofort gefesselt. Strategische Verteidigung einer Stellung bei einem Angriff, das interessierte ihn. Er konnte sich ohne Probleme in die Männer hineinversetzen. Vieles, was damals für die Verteidigung eine Rolle gespielt hatte, stimmte heute noch genauso. Die Waffenkammer absorbierte seine Aufmerksamkeit völlig. Wie gern hätte er die eine oder andere Waffe von der Wand genommen, um sie in der Hand zu halten oder selbst auszuprobieren.
Sie sahen sich gemeinsam das Areal an, das dem Papst vorbehalten gewesen war, und Ben erfuhr, dass es einen Gang zwischen der Engelsburg und dem Vatikan gab, der bei Gefahr als Fluchtweg für den Papst diente. Die Burg ließ sich wesentlich einfacher verteidigen als der Petersdom – für ihn als Stratege leicht nachzuvollziehen.
Schließlich standen sie auf der obersten Ebene der Engelsburg mit einer unvergleichlichen Aussicht auf Rom. Tafeln zeigten auf, was sich wo in der Stadt befand. Das Wetter war absolut klar, der Himmel wolkenlos, die Temperatur angenehm – warm, aber nicht heiß. Ben wollte nicht wissen, wie sich der Sommer in Rom anfühlte. Hanna betrachtete lange die Bronzefigur des Erzengels. Innerhalb der Räume war es verboten gewesen, Fotos zu machen. Hier draußen holte sie ihre Kamera hervor.
»Was ist das für eine Glocke?« Ben deutete auf eine Glocke links neben der Engelsfigur. Irgendwie ging er davon aus, dass Hanna all seine Fragen beantworten konnte. Sie enttäuschte ihn nicht.
»Misericordia.«
Seine fragend hochgezogenen Augenbrauen entlockten ihr sogar eine weitere Erläuterung. »Die Glocke wurde beim Vollzug von Todesstrafen geläutet.« Hanna setzte sich, zog ihr Skizzenbuch heraus und begann, die Bronzefigur des Engels zu zeichnen.
Er näherte sich ihr und schaute über ihre Schulter. Es war keine naturgetreue Zeichnung, sondern betonte bestimmte Aspekte der Figur. Es faszinierte ihn, wie aus einigen markanten Strichen unter ihrer Hand ein Bild auf dem Blatt entstand. Er wandte sich abrupt ab. Ihre Nähe weckte sein Verlangen, sie zu berühren.
»Ich frage mich, was diese Burg alles erlebt hat, in der Zeit, seit sie erbaut wurde«, dachte Ben laut, als er auf den Innenhof hinuntersah.
»Ein Gebäude erlebt nichts.«
»Wenn du deine Bilder machst, denkst du da nicht über den Architekten eines Gebäudes nach, der es erschaffen hat?
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