Hannas Wahrheit (German Edition)
konnte, lief sie bereits zur Tür. Dort drehte sie sich noch einmal um.
„Pass auf sie auf, sie ist etwas Besonderes.“
Flucht
H anna saß auf der Bank am Templiner See. Die untergehende Sonne sandte ihre Strahlen über die Wasserfläche zu diesem Platz. Ihre Augen waren geschlossen. Ein Mann kam den Weg entlang, setzte sich neben sie. Sie brauchte ihre Augen nicht zu öffnen, um zu wissen, wer es war.
„Ist es so weit?“, fragte sie leise.
„Was denkst du?“, antwortete er ihr. Hanna liebte den Klang seiner Stimme. Rau, dunkel und warm, stundenlang hatte sie ihrem Vater zuhören können, wenn er ihnen Gute-Nacht-Geschichten vorlas. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Er war immer noch so jung, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Das Haar zerzaust, die blauen Augen so dunkel, dass sie fast violett erschienen. An der Farbe seiner Augen hatte sie immer seine Stimmung ablesen können. Sein geschwungener Mund mit den schmalen Lippen lächelte sie an. Seine Gestalt schien die Strahlen der Sonne einzufangen und in der Peripherie zu konzentrieren, sodass das Innere mehr einem Schatten glich.
„Ich bin müde.“
„Ich weiß.“
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Papa, diesmal bin ich wirklich müde.“
„Ich habe dir viel Verantwortung aufgebürdet, das tut mir leid.“
„Es braucht dir nicht leid zu tun. Die Verantwortung war nicht zu groß, ich habe nur einfach versagt.“
„Wieso denkst du das, Hanna?“
Tränen traten in ihre Augen. „Ich habe sie nicht beschützen können.“
Ihr Vater schüttelte den Kopf, streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange.
„Nein, Hanna, du hast sie beschützt. Immer so gut es ging.“
„Was soll ich jetzt tun?“
„Deinem Herzen folgen.“
„Aber …“
„Hanna, du kannst die Welt nicht verändern. Du kannst das Böse nicht besiegen. Jeder Mensch hat seinen freien Willen und jeder Mensch muss selbst entscheiden, welchen Weg er geht. Du kannst nur deinen Weg wählen, und mit deiner Wahl die Welt ein kleines Stück zum Guten wenden.“
Sie schüttelte den Kopf. „Es muss mehr geben, was ich tun kann.“
„Nein, gibt es nicht.“ Er sagte es bestimmt, und seine Worte brachten ihr Frieden. Seine Hand berührte das Tattoo an ihrem Arm. Sanft zeichnete er die Buchstaben der Worte nach. Die Worte glühten von seiner Wärme. „Ego sum lux mundi“, flüsterte sie leise. Er lächelte. „Du warst das Licht in meinem Leben. Sei einfach weiter ein Licht, das leuchtet, und es wird helfen, dass andere Menschen ihren Weg finden.“
Sie seufzte tief, fühlte der Energie nach, die durch ihren Körper floss, ihr Kraft gab und die Schwäche vertrieb.
„Darf ich noch bleiben?“, flüsterte sie leise.
„Ja, noch ein bisschen“, antwortete er und zog sie in seine Arme. „Ruhe dich ein wenig aus, mein Kind.“ Er streichelte sanft ihre Haare und drückte ihr einen Kuss darauf. Sie kuschelte sich an ihn und schlief ein.
Sie erwachte, als die Sonne ihre ersten Morgenstrahlen von der anderen Seite auf den See schickte. Auf der Bank war es dunkel. Sie fror nicht, in den Armen ihres Vaters war es warm. Er küsste ihre Stirn.
„Fühlst du dich wieder besser?“, fragte er sie leise. Sie lächelte und nickte. Er stand auf, der Rand seines Körpers schimmerte nur noch leicht. Sie sah zu, wie er sich auf dem Weg entfernte.
„Papa?“
Er drehte sich um.
„Wirst du mich holen, wenn es so weit ist?“
Sein Lächeln ließ sein Gesicht aufleuchten. „Wenn es so weit ist, bin ich derjenige, der auf unserer Bank auf dich wartet.“
Hanna öffnete vorsichtig ihre Augen. Das Zimmer, in dem sie sich befand, war hell und ganz aus Holz. Sie runzelte die Stirn, noch benommen von ihrem Traum. Die Luft war frisch und feucht. Sie betrachtete die Plastikkanüle an ihrem Arm, folgte dem Weg, den das Kabel nahm, und sah an einem Holzständer, einem normalen Kleiderständer, einen Plastikbehälter. Sie richtete sich langsam auf. Ihre linke Seite fühlte sich seltsam taub an. Ihre nackten Füße berührten einen bunten Flickenteppich. Mit den Fingern hob sie das T-Shirt an und betrachtete erstaunt den Verband, der sich von unterhalb ihrer Rippen bis zum Hüftknochen hinzog. Der Drang, auf Toilette zu gehen, der sie geweckte hatte, meldete sich nachdrücklich. Sie löste die Pflaster an ihrer rechten Armbeuge und zog die Kanüle heraus. Sie presste den Daumen auf das Loch und wartete. Als sie den Daumen wegnahm, hatte sich die kleine Öffnung geschlossen. Sich an dem
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