Hannas Wahrheit (German Edition)
Holzständer festhaltend, richtete sie sich langsam auf. Sofort wurde ihr schwindelig, ein leichtes Pochen im Hinterkopf machte sich bemerkbar. Sie tastete nach der Stelle und fühlte eine Schwellung.
Sie atmete tief ein. Sie war verwirrt, hatte keine Ahnung, wo sie sich befand. Also einen Schritt nach dem anderen, machte sie sich leise Mut und unterdrückte die aufkommende Angst. Erst musste sie die Toilette finden. Sie wartete, bis sie sich einigermaßen sicher fühlte. Langsam ließ sie den Ständer los und spannte ihren Körper an. Etwas wackelig auf den Beinen, ging sie Schritt für Schritt auf die Zimmertür zu. Die Strecke war zum Glück nicht lang. Ihre Hand drückte die Klinke herunter, sie zog an der Tür, nichts geschah. Ihr Blick glitt über die Tür. Nein, sie hatte sich nicht vertan. Die Tür öffnete sich in den Raum. Erneut drückte sie die Türklinke, nichts passierte. Sie rüttelte daran, merkte, wie sich Angst einen Weg in ihren Kopf bahnte und ihr Herzschlag sich beschleunigte. Sie schrie.
„Alles okay, Hanna, du brauchst keine Angst zu haben. Ich habe nur abgeschlossen, damit dir nichts passiert. Geh ein bisschen von der Tür weg, dann öffne ich sie.“
Die Stimme war tief und hatte einen beruhigenden, angenehmen Klang. Sie gehorchte, ging zur Seite. Ein Schlüssel drehte sich, dann wurde die Tür langsam aufgemacht. Das Licht aus dem Flur schickte seine Strahlen in ihr Zimmer. Für einen kurzen Augenblick fühlte sie sich in ihren Traum zurückversetzt. Die Lichtgestalt ihres Vaters, wie er ihr am See erschienen war. Doch dann ließen die Strahlen der Sonne nach, und sie konnte die Person vor sich erkennen. Ein Mensch, sehr real, keine Fantasiefigur, erschaffen von ihrem Unterbewusstsein. Vor ihr stand ein Mann. Ein kleines Stück größer als sie, mit kurzen dunklen Haaren. Er trug ein weites T-Shirt, Jeans, seine Füße waren nackt. Er lächelte sie aus grauen Augen an. Verwirrt betrachtete sie ihn. Sie hatte keine Ahnung, wer der Mann war. Aber seltsamerweise machte er ihr auch keine Angst. Distanz wahrend, sie nicht berührend, blieb er vor der Tür stehen. Er zog die Augenbrauen hoch.
„Du weißt nicht, wer ich bin?“
Sie schüttelte leicht den Kopf, mit dem Ergebnis, dass ihr gleich wieder schwindelig wurde. Er streckte die Hand aus, blieb aber, wo er war, wofür sie ihm dankbar war. Sie hielt sich an der Tür fest. Ein feiner Luftzug strich um ihre Beine, ließ sie erschauern. Sie starrte auf ihre nackten Beine. Sie trug nichts außer einem T-Shirt und einer Unterhose. Sie wurde rot. Vorsichtig hob sie den Kopf. Seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht, waren nicht ihrem Blick gefolgt. Sie sah ihn an. Noch nie hatte sie ein Gesicht vergessen. Noch nie war sie mit einem fremden Mann in einem Zimmer aufgewacht. Oder doch? Wie hatte er sie genannt? Hanna? War das ihr Name? In ihrem Kopf fing es heftig an zu pochen. Vor ihre Augen legte sich ein Schleier. Übertrieben stark zog sie die Luft ein.
„Keine Panik, das kommt wieder“, erklärte er mit ruhiger Stimme. „Atme einfach ruhig ein und lange wieder aus. Ein und aus.“
Es wirkte sofort bei ihr. Seine Stimme war etwas, was ihr vertraut erschien. Die Befehle waren bestimmt, aber bedrängten sie nicht. Er strahlte so viel Ruhe und Sicherheit aus. Sie fühlte, wer auch immer er war, dass sie ihm vertrauen konnte. Der Schleier vor ihren Augen verschwand, ihr Puls verlangsamte sich.
„Wenn du den Schrank aufmachst, findest du ein paar von deinen Sachen.“ Er lächelte sie an. „Falls du dir etwas mehr anziehen möchtest.“ Es verwirrte sie nicht, dass er ihre Verlegenheit bemerkt hatte. Seine nächsten Worte kamen zögernd. „Soll ich dir helfen?“
„Nein“, stieß sie hastig hervor.
„Okay, ich bin hier ganz in deiner Nähe, wenn du Hilfe brauchst.“
Er wandte sich ab. Gab ihr den Freiraum, den sie brauchte, um ihre Würde zu behalten.
„Warte.“
Er drehte den Kopf.
„Toilette?“, flüsterte sie leise.
Er nickte, drehte sich wieder halb um und zeigte auf die Tür direkt auf der anderen Seite von dem Raum, in dem sie sich befand. „Du hast das Zimmer, das direkt gegenüber von der Toilette liegt. Ich dachte, das wäre besser, solange du nicht so fit bist. Es hat keine so schöne Aussicht und liegt auf der Nordseite. Du kannst auch gerne das andere am Ende des Ganges haben, wenn dir das lieber ist.“
Sie folgte seinem Finger und sah zwei weitere Türen. Er hatte gesagt: du hast das Zimmer, nicht: wir haben das
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