Hannas Wahrheit (German Edition)
Zimmer. Beruhigend. Ohne ein weiteres Wort schloss sie die Tür vor seiner Nase. Sie drehte sich zu dem Schrank, der sich links von der Tür befand. Tatsächlich befanden sich dort einige Kleidungsstücke, die ihr nicht fremd erschienen. Sie war sich nicht sicher. In ihrem Kopf pochte es wieder, gleichzeitig machte sich ihre Blase nachdrücklich bemerkbar. Sie schob ihre Gedanken beiseite, schlüpfte in eine Jogginghose und öffnete die Tür. Er stand noch immer im Flur, lehnte bequem mit der Schulter an der Wand.
„Kannst du alleine auf Toilette gehen?“
„Natürlich“, erklärte sie empört und schärfer als beabsichtigt.
Er ließ sich von ihrem Ton nicht aus der Ruhe bringen. „Wenn du mich brauchst, ruf mich, ich bin unten.“ Er machte eine Pause, zögerte, bevor weitersprach. „Schließ bitte nicht ab, ich würde ungern die Tür kaputt machen müssen, wenn du Hilfe brauchst.“ Damit ließ er sie stehen und ging die Treppe hinunter.
Kaum war er weg, hielt sie sich am Rahmen fest. Ihre Beine zitterten, was sie ärgerte. Weshalb fühlte sie sich so schwach? Langsam tapste sie zur Toilette. Zögernd ging ihre Hand zu dem Schlüssel. Sie fühlte sich wirklich nicht gut und ließ die Tür unverschlossen. Als sie fertig war, sah sie sich in dem Raum um. An einem Haken neben dem Waschbecken hingen zwei Reisenecessaires. Sie öffnete das erste und fand einen Rasierapparat, ein Männerdeo, Rasierschaum. Definitiv nicht ihres. Sie öffnete das nächste und sah, wonach sie suchte. Ihre Zunge fuhr über die Zähne, die sich pelzig anfühlten. Überhaupt fühlte sie sich nicht besonders sauber. Angesichts des Verbandes sah sie die Dusche nur seufzend an und entschied sich, ihren Körper vorerst nur mit einem Waschlappen zu reinigen.
Zuerst putzte sie sich die Zähne, dann zog sie vorsichtig das T-Shirt aus. Im Spiegel betrachtete sie den Verband. Sie hatte keine Ahnung, weshalb sie ihn trug, aber der Verband war nicht das Einzige, was ihre Aufmerksamkeit weckte. An ihren Armen und an ihrem Hals befanden sich rote Stellen und blaue Flecken. Die roten Stellen brannten, nachdem sie sich gewaschen hatte.
„Alles in Ordnung mit dir, Hanna?“, hörte sie die Stimme des Mannes, begleitet von einem besorgten Unterton. Sie löste den Blick von ihrem Spiegelbild und zog hastig das T-Shirt über.
„Hanna?“
„Ja.“
„Hast du Hunger?“
Ihr Magen knurrte vernehmlich. „Ja.“
„Möchtest du runterkommen, oder soll ich das Essen zu dir ans Bett bringen?“
„Ich komme runter.“ Auf keinen Fall wollte sie im Bett liegen, während er das Essen servierte.
Hanna, echote der Name in ihrem Kopf. Sie suchte nach einem Gefühl der Vertrautheit, aber da war nichts. Sie beschloss, es erstmal dabei zu belassen. Sie verließ das Bad und wandte sich zur Treppe, die auf halber Höhe eine Neunzig-Grad-Wende machte. Als sie in die Tiefe blickte, wurde ihr schwindelig. Sie setzte sich auf den Absatz, atmete tief ein und aus, in demselben Rhythmus, den er ihr vorgegeben hatte. Es wirkte beruhigend wie beim ersten Mal. Sicherheitshalber entschied sie sich, die Treppe sitzend hinunterzurutschen. Kaum war sie am Knick, sah sie ihn am Ende der Treppe stehen.
Belustigt schüttelte er den Kopf. „Du hättest etwas sagen können, ich hätte dich runtergetragen.“
„Nein, danke, es geht auch so.“
Er wartete, bis sie unten angekommen war, und reichte ihr die Hand. Zögernd ergriff Hanna sie und ließ sich von ihm hoch helfen. Auch dabei hielt er Abstand, soweit es möglich war. Er wartete, bis sie ihr Gleichgewicht gefunden hatte.
Ein kleiner Flur führte nach rechts zu einer Haustür. Links gab es eine weitere Tür, durch die Licht fiel. Er ließ ihr den Vortritt.
Der Raum war groß mit vielen Fenstern. Auf der einen Seite befand sich eine Küche mit einem Esstisch, an dem zehn Leute Platz fanden. Auf der anderen Seite gab es einen Kamin mit einer gemütlichen Sitzgruppe und zwei Schwingsesseln mit Hockern. An den Wänden Fotografien von skandinavischen Landschaften. Die Bilder weckten etwas in ihr, aber sie konnte es nicht greifen. Mit ihrer Hand langte sie an ihren Kopf. Der Mann trat hinter sie, seine Hände legten sich sachte auf ihre Schultern. Ein leichter, kaum wahrnehmbarer Kontakt.
„Langsam, nicht alles auf einmal. Jetzt wollen wir erst mal was essen. Du musst Hunger haben.“
Seltsamerweise war seine Berührung nicht unangenehm, sondern gab ihr Sicherheit und Halt. Normalerweise mochte sie es nicht, wenn
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