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Hannas Wahrheit (German Edition)

Hannas Wahrheit (German Edition)

Titel: Hannas Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Rachfahl
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weiteres Badezimmer. Auf den Dielenböden lagen überall bunte Flickenteppiche. Luftige Vorhänge an den Fenstern gaben allen Räumen etwas Leichtes. Die Hütte lag in einer hügeligen Landschaft. Von dem Eingang führte ein Kiesweg an einen See hinunter. Dort gab es einen Steg und ein Bootshaus. Sie war dem Weg noch nicht gefolgt, hatte nur von einer Anhöhe, auf den See herabgesehen. Aus irgendeinem Grund zog der See sie an und stieß sie gleichzeitig ab. Der Baum an der Anhöhe etwa hundert Meter vom Hauseingang entfernt, war ihre weiteste Strecke gewesen. Sie liebte den Platz an diesem alten, dicken, knorrigen Baum, sie verbrachte Stunden dort, wenn das Wetter es zuließ.
    Der Mann stellte keine Fragen und erzählte nichts. Ihr längstes Gespräch hatten sie am ersten Tag geführt. Ansonsten beschränkte sich ihre Konversation auf „Guten Morgen“, „Alles in Ordnung?“, „Brauchst du etwas?“, „Hast du Hunger?“, „Möchtest du etwas trinken?“. Diese Fragen beantwortete sie mit ja oder nein. In ihrem Kopf lauerten unendlich viele Fragen, die sie aber nicht stellte. Es war, als würde sie auf einem schmalen Grat wandern, der sich auf ein Ende zubewegte. Wenn sie dieses Ende erreicht haben würde, war es früh genug, die Fragen zu stellen. Sie wusste, dass sie Zeit brauchte, bevor sie sich den Antworten stellen konnte. Zuerst musste sie sich erholen.
    Am dritten Abend nach ihrem Erwachen klopfte er an ihre Tür.
    „Ja?“
    „Darf ich reinkommen?“
    Sie zögerte mit ihrer Antwort. „Ja.“
    Als er hereinkam, trug er in der Hand eine Schale, in der sich Salben und Verbandsmaterial befanden. Sie betrachtete die Utensilien.
    „Es ist Zeit für einen Verbandswechsel.“
    Er setzte sich auf die Bettkante und wartete. Sie legte das Buch beiseite, das sie gelesen hatte. Unten gab es ein ganzes Regal voller Literatur. Der Gedanke, dass er den Verband an ihrem Oberkörper wechseln musste, behagte ihr nicht. Er schien ihr Unwohlsein zu bemerken.
    „Keine Sorge, ich bin vorsichtig. Es wird nicht wehtun“, erklärte er ihr mit einem leichten Lächeln. Sie holte tief Luft und war froh, dass sie noch ihren BH anhatte. Sie zog ihr T-Shirt über den Kopf und ließ den Mann dabei nicht aus den Augen. Sie hatte in den letzten Tagen beobachtet, wie er trainierte. Er war muskulös und ausdauernd. Er war ihr nie zu nahe gekommen, dennoch sagte ihr tief in ihrem Inneren etwas, dass sie wachsam bleiben musste. Sein Blick richtete sich konzentriert auf den Verband. Mit einer Schere löste er die zur Fixierung angebrachten Pflaster und begann, geschickt den Verband von ihrem Oberkörper abzuwickeln. Ein Mann, der ständig trainierte und zugleich geübt darin war, einen Verband zu wechseln. Was sagte ihr das über diesen Mann?
    „Kannst du dich etwas mehr seitlich drehen?“
    Sie drehte ihm die rechte Seite zu. Seine Hände berührten ihre Haut, als er die Kompressen vorsichtig entfernte. Ihr Blick ging zu der Wunde, die sich von ihrer Rippe bis zu ihrer Hüfte zog. Eine saubere, glatte Linie, mit dunkeln Fäden zusammengehalten. Der Rand war ein wenig gerötet. Seine Fingerspitzen folgten Stück für Stück der Wunde und drückten ihr Fleisch nach innen. „Sag mir, wenn es irgendwo wehtut.“
    Als ihr Atem schneller ging, hielt er inne und sah sie an. „Tut es weh?“
    Sie schüttelte den Kopf. Es lag an seiner Berührung, dass sich ihr Atem beschleunigte. Es hatte etwas Vertrautes an sich, und etwas Beunruhigendes. Vor ihren Augen blitzte ein anderes Bild auf. Sein Gesicht mit einem Schweißfilm bedeckt. Seine Lippen halb geöffnet, seine Augen hungrig auf sie gerichtet. Es war nicht das erste Mal, dass sie in dieser Art an ihn dachte. Aber nie war er ihr in den letzten Tagen dabei so nahe gewesen. Er zog seine Hände von ihr zurück, verlagerte seinen Oberkörper und brachte auf diese Art ein wenig Distanz zwischen sie. Brennende Röte schoss ihr ins Gesicht. Sie wandte den Blick ab, sah auf die gegenüberliegende Wand und dachte an das ekeligste Insekt, das ihr einfiel. Kühle Salbe wurde auf die Wunde gestrichen, ein Pflaster aufgeklebt.
    „Du kannst dein T-Shirt wieder anziehen. Ich bin fertig.“
    Erleichtert stieß sie die Luft aus, die sie angehalten hatte, und zog sich wieder an. Der Mann bückte sich und sammelte das Verbandsmaterial ein.
    „Möchtest du nicht wissen, wie es passiert ist?“, fragte er sie leise, ohne sie anzusehen. Sie presste die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf, nahm das Buch und

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