Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hannas Wahrheit (German Edition)

Hannas Wahrheit (German Edition)

Titel: Hannas Wahrheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Rachfahl
Vom Netzwerk:
kleines Mädchen im Wasser, ich wollte es retten“, wisperte sie.
    „Ein Mädchen?“
    Sie schloss die Augen und nickte.
    „Sie hatte lange schwarze Haare.“ Er runzelte die Stirn. „Der See war so tief, viel tiefer, als ich dachte. Ich habe nach ihren Haaren gegriffen und wollte sie hochziehen. Aber ich konnte sie nicht bewegen.“
    Die Tränen, die ihr über die Wangen liefen, waren wie ein Bach. Sie drehte ihr Gesicht zu ihm, sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. „Aber ich konnte sie doch nicht da unten sterben lassen“, stieß sie verzweifelt aus.
    Er streckte die Arme aus, und Hanna warf sich hinein. Ganz dicht rückte sie an ihn heran, kuschelte sich an seine Schulter, während ein Schluchzen ihren ganzen Körper erschütterte. Während er sie mit der einen Hand streichelte, langte er hinter sich und fischte eine Kleenexbox vom Beistelltisch. Seine Schwester liebte Liebesschnulzen, am liebsten die ganz großen Dramen, und wo immer sich ein Fernseher befand, war die Kleenexbox nicht weit. Er stellte sie auf seinen Schoß, streichelte Hannas Kopf und küsste sanft ihr Haar.
    Es dauerte, bis ihr Atem wieder gleichmäßig ging. Zehn Tücher lagen zerknüllt auf dem Boden vor dem Sofa. Er fragte sich, was der nächste Schritt war. Ihm war klar, wer das Mädchen gewesen war, das sie in dem Seegras gesehen hatte. Doch sie wirkte so zerbrechlich, dass er sich völlig überfordert fühlte mit der Situation. Er war kein Psychiater, aber hier war ein Therapeut gefragt. Kein Soldat, der geschult war, Leute zum Sprechen zu bringen. Hier gab es eine verletzte Seele, die nach Hilfe rief. Ihr Atem ging so gleichmäßig, dass er bereits dachte, sie wäre eingeschlafen.
    „Es gab kein Mädchen auf dem Grund des Sees“, erklärte sie ruhig.
    „Nein“, erwiderte er vorsichtig.
    Eine Pause, in der er ihr Denken körperlich spüren konnte in der Spannung ihres Körpers.
    „Das Mädchen auf dem Grund war ich, oder?“
    Er schwieg, überlegte, was er darauf antworten sollte. Letztlich hatte er keine Ahnung, was sie gesehen hatte, oder ob sie versucht hatte, sich selbst umzubringen. Sie richtete sich leicht auf und sah ihn mit verheulten Augen und verquollenem Gesicht forschend an.
    „Was ist passiert?“
    „Ich weiß es nicht“, antwortete er wahrheitsgemäß.
    Ihre Augen ließen die seinen los, wanderten zu der Fotografie an der Wand. Sie kniff die Augen zusammen. „Das Bild ist furchtbar“, stellte sie nüchtern fest. Die Absurdität der Situation ließ ihn auflachen. Sie starrte ihn an, und für einen kurzen Augenblick fürchtete er, sie würde erneut zusammenbrechen. Doch dann erschien ein dünnes Lächeln auf ihren Lippen. Er schüttelte den Kopf.
    „Ja, Hanna, in deinen Augen ist das Bild vermutlich furchtbar. Du hättest es bestimmt besser gemacht.“
    Sie legte den Kopf schief. „Ich fotografiere?“
    „Ja, du bist eine hervorragende Fotografin.“
    Er wartete, wartete darauf, dass der Damm brach und ihre Erinnerungen kamen. Doch er konnte sehen, wie der Vorhang hinter ihren Augen wieder zuging.
    Sie löste sich von ihm. „Ich bin müde, ich gehe ins Bett“, flüsterte sie leise. Er hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben.
     
    Er machte sich etwas zu essen und trank eine Flasche Bier. Sein Blick wanderte zu seinem Handy. Nein, er war noch nicht bereit, seinen Einsatz als gescheitert anzusehen. Erst einmal eine Nacht darüber schlafen. Er ging zur Haustür und schloss sie ab. Sicher war sicher. Die Fenster konnten nur gekippt, nicht geöffnet werden. Die Tür zum Wohnraum mit der Küche schloss er ebenfalls ab. Beide Schlüssel steckte er in seine Hosentasche. Langsam stieg er die Treppe hoch. Leise öffnete er die Tür und sah in ihr Zimmer. Auf Zehenspitzen schlich er zu ihrem Bett. Hanna hatte sich zu einem Knäuel zusammengerollt. Ihr Atem ging tief und gleichmäßig. Er beobachtete sie einen Moment, wollte sichergehen, dass sie schlief. Sanft strich er ihr über die Wange. Sie war nicht der erste Mensch, den er hatte zerbrechen sehen. Das Schlimmste war, dass er wusste, er konnte ihr helfen, wenn sie endlich anfing zu reden.
     
    In der Nacht kamen die Albträume. Sie roch das Chloroform, das sich ihr über den Mund und die Nase legte. Spürte die Hände, die sie festhielten. Wieder war sie mit Handschellen am Bett gefesselt und sah die Gier der Männer, ihre Gesichter verzerrte Masken. Spürte die Kälte des Sees, sie bekam keine Luft. Mit einem gierigen Einatmen schreckte sie hoch.

Weitere Kostenlose Bücher