Hannas Wahrheit (German Edition)
Seine Lippen waren voll, feucht legten sie sich auf ihre. Aber es passierte nichts. Kein elektrisierendes Gefühl pulsierte durch ihre Adern. Keine Flammen züngelten ihre Haut entlang, und es gab auch keine brennende Hitze, die aus ihren Poren drang. Sie nahm seinen Geruch nach Alkohol wahr, roch den penetranten Duft seines Deos vermischt mit Schweiß.
Ekel schoss in ihr hoch, sie zuckte zurück. So war es immer gewesen, nie anders, bis auf ein Mal. Die Distanz zu ihrem Körper. Die analytische Wahrnehmung ihres Verstands, der genau beobachtete, was vor sich ging. Der Verstand, der Vorgänge in biologische Einzelheiten teilte, ohne jegliche emotionale Regung. Ihr Körper taub und tot. Das, was in Nairobi in der Nacht mit ihr passiert war, existierte nicht. Es war niemals geschehen. Sie war zu körperlicher Liebe nicht fähig. Verflucht seiest du, Ben Wahlstrom, schimpfte sie leise in Gedanken. Wut kam in ihr hoch auf den Mann, der ein zweites Mal ihr Leben betreten hatte. Ein Zittern lief über ihren Körper, das Philip falsch interpretierte.
„Kein Angst, ich passe auf dich auf. Niemand wird dir wehtun“, flüsterte er zärtlich und wollte mit seinen Händen ihr Gesicht umfassen. Die Absurdität seiner Worte ließen sie seine Hände fester packen als beabsichtigt. Niemand würde ihr jemals wieder wehtun, dafür konnte sie ganz alleine sorgen. Dafür brauchte sie keinen Mann, und schon gar nicht Philip.
„Lass das.“
Forschend sah er sie an, ließ ihr dann aber Raum. „Wir müssen nichts überstürzen. Ich weiß, du brauchst Zeit.“
Sie unterdrückte den Impuls, ihn von sich fortzustoßen. Sie fing an, ihre Hände zu kneten. In ihr tobte ein Sturm, den sie versuchte zu kontrollieren. Sie senkte den Blick, damit er nicht sehen konnte, wie sich ihr Gesicht angewidert verzog. Es lag nicht an Philip. Es lag an ihr. Sie war nicht fähig, ihren Verstand und ihrer Erinnerungen abzuschalten.
Philip machte nicht noch einmal den Fehler, sie zu berühren. Stattdessen rückte er ein wenig von ihr ab. Unbewusst reagierte er endlich richtig und schaffte es, dass sie sich wieder ein wenig entspannte. „Hanna, du brauchst dich nicht zu schämen. Ich weiß, was dir passiert ist. Gib uns nur einfach eine Chance.“
Sie schüttelte den Kopf. Nein, Viktor hatte recht. Das Spiel, das sie spielte, war falsch. Es war unfair, Philip Hoffnungen zu machen, wo es keine gab. Er war nett, aber er war nicht der Mensch, der in der Lage war, ihr das zu geben, was sie brauchte. Was sie brauchte ... Jetzt dachte sie auch schon, dass sie etwas brauchte. Verdammt noch mal, warum konnte sie nicht einfach vergessen, was in Afrika passiert war, und einfach so weiterleben wie bisher. Sie war glücklich gewesen, oder etwa nicht?
„Hanna, bitte“, flehte Philip sanft. Er holte Luft, zögerte, fasste Mut. „Ich habe eine Freundin, sie ist Therapeutin.“ Sie starrte ihn an. „Hanna, irgendwann musst du die Vergangenheit loslassen. Es ist zwölf Jahre her, und du wärest eine wundervolle Mutter. Ich habe gesehen, wie du mit Kindern umgehst. Kinder lieben dich.“
Abrupt stand sie auf. „Bitte geh.“
Er nickte, stand auf. Sanft streichelte er ihr mit der Hand über die Wange. „Lass es dir durch den Kopf gehen. Sie ist wirklich gut. Sie ist spezialisiert auf Frauen, die Opfer eine Vergewaltigung geworden sind.“
Er ging zu ihrem Schreibtisch nahm sich ein Zettel und ein Stift. Dann schrieb er eine Adresse darauf und hielt ihr den Zettel hin. Sie starrte ihn an.
„Wenn du nicht selber anrufen möchtest, dann sag mir Bescheid. Ich kann jederzeit einen Termin für dich vereinbaren.“ Langsam legte er den Zettel mit der Adresse auf den Couchtisch vor sie hin.
Krampfhaft hielt sie ihren Kopf oben. Mit ihren Armen umschlang sie ihren Körper. Es kostete sie ihre ganze Selbstbeherrschung, Philip nicht mit einem Faustschlag K.o. zu schlagen. Mit welchem Recht mischte er sich in ihr Leben ein? Wie konnte er es wagen, ihr die Visitenkarte einer Therapeutin auf den Tisch zu legen? Dachte er, sie wäre verrückt?
Erst als er aus der Wohnung war, lief sie in ihr Schlafzimmer, warf sich auf ihr Bett, vergrub ihr Gesicht ins Kissen und schrie ihre ganze Wut heraus. Es gab Momente, da hasste sie ihre Mutter. Hatte sie Philip ihre ganze Lebensgeschichte erzählt? Oder war es Susan gewesen? Vielleicht beide gemeinsam bei einem Essen. Das Bild in ihrem Kopf ließ ein zweites Mal die Wut in ihr auflodern. Schreien half nichts. Da war der Schock, den
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