Hannas Wahrheit (German Edition)
Selbstverständlichkeit für sie, sondern ein Wunder. Nein, sie war nicht verrückt oder falsch. Sie würde sich nicht vorschreiben lassen, was sie fühlen musste. Oder sich weismachen lassen, wie sie sein sollte. Warum glaubte jeder immer, dass sie sich verändern müsste? Warum konnte niemand sie so akzeptieren, wie sie war?
Sie umschlang sich mit den Armen, wiegte sich sanft hin und her. Ein weiterer Grund, weshalb es wichtig war, sich heute mit Viktor zu treffen. Nie hatte sie ihm erzählt, weshalb sie sich in der Klinik aufgehalten hatte. Es war auch nicht notwendig gewesen. Es reichte, dass sie das gleiche Schicksal teilten. Sie waren beide das Opfer einer Gewalttat. Niemand verstand sie besser als er. Es war ein Band der Freundschaft entstanden, das dicker war als dasjenige, das sie mit ihrer Zwillingsschwester verband.
Entschlossen stand sie auf, packte ihren Rucksack und nahm ihre Kamera. Sie würde den Tag nicht tatenlos in ihrer Wohnung verbringen. Nie wieder wollte sie die Fäden ihres Lebens in die Hände von anderen Menschen geben. Sie würde sich nicht von ihren Ängsten lähmen lassen, sondern herausfinden, weshalb Major Wahlstrom ein zweites Mal in ihr Leben getreten war. Diesmal war sie im Training, und sie befanden sich auf ihrem Terrain.
Sie nahm sich Zeit, jedes Auto, jeden Menschen in ihrer Straße anzusehen. Ihre Augen blieben an einem Mann mittleren Alters hängen, der sich intensiv mit seinem Handy beschäftigte. Sie wartete. Tatsächlich hob er den Kopf, sah sie kurz an, senkte wieder den Blick. Interessant, sie wurde also beobachtet. Sie kehrte ins Haus zurück, ging in den Keller, holte ihr Fahrrad. Der Mann erstarrte, als sie losfuhr. Grüßend hob sie die Hand, warf ihm ein Lächeln zu und gab Gas.
Berlin war die einzige Stadt, in der Hanna leben konnte. Rund um sie herum gab es genügend Grünflächen, sodass sie vergessen konnte, mitten in der Hauptstadt Deutschlands zu leben. Ihre Eigentumswohnung befand sich in Berlin Mitte, direkt in der Nähe der Humboldt-Universität. Sie besaß einen Ausweis für die Bibliothek und konnte nach Herzenslust ihre Neugierde befriedigen. Manchmal besuchte sie öffentliche Vorträge oder Veranstaltungen. Ihre ganze Recherche zu ihren Projekten konnte sie über die Bibliothek abwickeln. Zudem war das Naturkundliche Museum direkt um die Ecke. Einfach ideal. Sie stieg vom Rad, sie legte sich auf die Wiese und begann, Fotos vom Himmel zu machen. Er war heute nicht klar, sondern voller verschiedenartiger Wolken. So als könnte er sich nicht entscheiden, was er wollte. Schäfchenwolken gaben sich ein Stelldichein mit hohen Schleierwolken. Sie ließ sich weitertreiben von dem, was sie sah und was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie machte Fotos von Sperlingen, Eichhörnchen, einem Frosch und einer Trauerweide. Sie kam an einer Gruppe junger Mädchen vorbei, die sie baten, ein Foto zu machen. Grinsend willigte sie ein und fragte sich, wie sie wohl reagieren würden, wenn sie ein Honorar verlangte. Wild schnatternd, mit kreischender Bewunderung gingen die Mädchen die Bilder durch, die sie geschossen hatte. Bevor sich den Mädchen bei ihr bedanken konnte, schnappte sie sich ihre Sachen und verschwand.
Mit der U9 fuhr sie vom Zoologischen Garten zum Leopoldplatz. Die U-Bahn war um diese Zeit leer, sodass sie ihr Fahrrad bequem mitnehmen konnte. Am Leopoldplatz schwang sie sich auf das Fahrrad und radelte auf Schleichwegen in die Invalidenstraße zur Zweigbibliothek für die Asien- und Afrikawissenschaften zurück.
Sie eroberte sich einen der PC-Arbeitsplätze, holte ihr Wasser aus dem Rucksack und ihr Notizbuch. Dann überlegte sie, wonach sie eigentlich suchte. Sie schlug ihr Notizbuch auf, schloss die Augen und versuchte, alle Gedanken aus dem Kopf zu vertreiben. Sie öffnete die Augen und fing an. Als Erstes schrieb sie Afrika in die Mitte und malte einen Kringel um das Wort. Sie schrieb Ochuko Mutai, Nigeria, Stiftung, Medicares, Armin Ziegler, UN, Nairobi, Bundeswehr, Rohstoffe, Aids, Macht, Geld, Ben Wahlstrom und zuletzt: Fotos. Sie betrachtete die Wörter, umkreiste jedes. Dann begann sie Linien zu ziehen zwischen den Begriffen, die für sie eine Verbindung besaßen. Daneben schrieb sie, was ihr dazu einfiel. Auf die Linie Bundeswehr-Wahlstrom notierte sie „geheim?“ mit Fragezeichen. Auf die Linie Medicares-Geld schrieb sie „Umsatz“. So machte sie weiter, bis die ganze Seite aussah wie ein verwirrendes Netz. Die Grafik war
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