Hannas Wahrheit (German Edition)
ihn zusammenfahren. Instinktiv wich er zurück in den Schatten, den die Hauswand auf den Bürgersteig warf.
Seine Besorgnis war unbegründet gewesen. Ohne seine Umgebung eines Blickes zu würdigen, ging der Mann, an den er gerade voll Eifersucht gedacht hatte, eiligen Schrittes auf der anderen Seite die Straße hinab. Dann blinkte ein Auto und die Scheinwerfer blitzten kurz auf. Philip Bornstedt öffnete die Fahrertür und stieg in seinen Audi A4. Die Tür knallte laut, als er sie zuzog. Er blinkte und musste dreimal vor und zurück manövrieren, bevor er sein Auto aus der Parklücke bekam. Dann bretterte er die Straße entlang in die entgegengesetzte Richtung, aus der er gekommen war.
Sein Ärger verflog mit den kleiner werdenden Rücklichtern des Wagens, ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Der Knoten im Magen löste sich, seine Muskeln entspannten sich. Seine Augen wanderten ein zweites Mal die Hauswand entlang zu dem Fenster hoch. Die Nacht mit Hanna war etwas Besonderes gewesen. Mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er der erste Mann in Hannas Leben gewesen war, der ihren Körper für große Gefühle erweckt hatte. Ein unbändiges Verlangen, sie zu berühren, sie in seine Arme zu schließen, überkam ihn.
Stöhnend ging er in die Hocke, schlug sich mit dem Handballen vor die Stirn. „Konzentriere dich, Ben“, flüsterte er sich zu. Seine intensiven Gefühle waren keine gute Ausgangsposition für den Job, der vor ihm lag. Er fragte sich, was ihm mehr Probleme bereitete. Der Gedanke, dass sie ihre Hand im Spiel hatte bei dem, was in Afrika passiert war. Oder dass sie unschuldig war und er sie trotzdem nicht haben konnte.
Recherche
A m nächsten Morgen starrte Hanna missmutig ihren Rechner an. Die Arbeit für die Benefizveranstaltung war erledigt, die entstandenen Bilder waren bereits auf dem Weg zur Druckerei. Das war das Einzige, was sie sich auf ihrem Rechner zu machen traute. Sie konnte einfach den Gedanken, dass sich der Trojaner genauso schnell wieder aktiviert hatte, wie er verschwunden war, nicht verdrängen. Sie würde lieber auf Nummer sicher gehen und ihren Rechner noch einmal zu Viktor bringen.
In der Nacht hatte sie sich, gequält von Träumen, durch das ganze Bett gewühlt. Ihren Körper hatte sie durch Training ermüden können, ihr Unterbewusstsein nicht. In ihren Träumen mischte sich der starre Blick des toten Jungen mit den Augen des Angreifers, dessen Waffe auf sie gerichtet war. Sie hielt den Jungen in ihren Armen, weinte, versuchte, das Blut, das aus der Schusswunde floss, aufzuhalten. Dann waren da andere Hände, die sie festhielten. Ihr Kopf, der an eine Halskuhle gekuschelt war. Die Wärme von nackter Haut, die einen betörend männlichen Duft ausströmte. Ein Herz, das unter ihren Händen lebendig schlug und ein sicheres Gefühl von Geborgenheit ausstrahlte. Nur ihr Vater war in der Lage gewesen, ihr das gleiche unschuldige Gefühl von Vertrauen, Liebe und Sicherheit zu geben. Als Nächstes das Gesicht ihrer Mutter, wie es sich tränenüberströmt über sie beugte, genauso wie damals, als sie im Krankenhaus die Augen aufgeschlagen hatte. Doch das, was sie am wenigsten begriff, waren Worte ihres Stiefvaters in ihrem Traum gewesen. „Keine Sorge, Silvia, ich kümmere mich darum. Du brauchst nie wieder Angst zu haben. Niemand wird es noch einmal wagen, einer deiner Töchter zu nahe zu treten. Das schwöre ich dir, bei meinem Leben.“
Sie konnte sich nicht erinnern, diese Worte jemals aus dem Mund ihres Stiefvaters gehört zu haben. Dafür gab es etwas anderes, woran sie sich erinnerte. Zwei Männer mit Kugeln im Kopf. Eine Meldung, die lange Zeit durch die Medien gegeistert war, zusammen mit der Story über ihre Entführung. Es war lange her, dass sie so intensiv an das dunkelste Kapitel in ihrem Leben gedacht hatte. Sie wusste nicht, wodurch es an die Oberfläche gespült worden war. Vermutlich waren es die Worte von Philip gewesen über eine Therapie. Als ob sie nicht schon genug Therapien gemacht hätte. Nein, sie war nicht krank, sie brauchte keine weitere Therapeutin, sie hatte nie wirklich eine gebraucht. Das, was ihr passiert war, gehörte zu ihrem Leben, war ein Teil von ihr. Sie hat gelernt, es zu akzeptieren und damit zu leben. Es gab Leid auf dieser Welt, aber auch Fülle, es gab Trauer und Freude, Glück und Unglück genauso wie Schmerz und Liebe. All das nahm sie intensiv wahr und konnte es auf ihre Fotos bannen. Das Leben war keine
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