Hannes - Falk, R: Hannes
gebeten, sie fortzubringen. Raus aus dem Haus und weg vom See. Es war das Einzige und Letzte, was Mutter und Sohn seit dem Unfall miteinander gesprochen haben. Er hat sie ins Vogelnest gebracht, fuhr weg und kam nie wieder. Das ist jetzt fast zehn Jahre her, und da fragt man sich natürlich, warum so etwas passieren muss. Warum wird ein Mensch für einige Momente außer Gefecht gesetzt, und danach ist nix mehr, wie es war? Danach ist nichts mehr überhaupt etwas wert. Das Leben von fünf Personen ist nichts mehr wert. Keinen Pfifferling. Wo liegt da der Sinn? Na ja, Hannes, das mit dem Sinn, wozu und warum, muss ich dich ja wohl nicht fragen, mein Freund. Wir haben da ja selber unsere Sorgen, nicht wahr. Da ist so ein sauguter Tag, und man fährt mit der Maschine durchdie Sonne, und von einem Moment zum anderen ist alles verändert. Kein Brummen der Motoren, kein Reifenquietschen. Und auch das Lachen ist verstummt. Stille bis zum Eintreffen der Sirenen. Alles, was man hören kann, ist das eigene Herz. Es trommelt und trommelt und pocht wie wild in den Schläfen. Und man weiß sofort, es ist nichts mehr, wie’s war.
Jedenfalls ist die Frau Stemmerle letzte Nacht wieder aufgewacht und hat mich nach der Jasmin gefragt, eben wieder, ob sie im Zimmer ist. Und weil die Frau Stemmerle jedes Mal so traurig ist, wenn ich sage, nein, die Jasmin ist nicht im Zimmer, es ist überhaupt niemand im Zimmer außer uns zwei Hübschen, hab ich diesmal gesagt, dass die Jasmin im Zimmer ist. Und was soll ich dir sagen: Die Frau Stemmerle hat sich gefreut. Es war das allererste Mal überhaupt, seit ich sie kenne, dass sie gelächelt hat. Und dann hat sie mit der Jasmin gesprochen. Sie hat mich dann gebeten, weil sie doch so schlecht hört, dass ich ihr doch bitte sagen soll, was die Jasmin ihr geantwortet hat. Hey, Alter, da ist mir jetzt aber schon etwas komisch geworden. Was hab ich da nur angefangen? Und was überhaupt würde ein totes achtjähriges Mädchen der Großmutter antworten, wenn die fragt, wo sie jetzt ist und wie es ihr geht? Hab mich aber schließlich durchgerungen, hab ja selber mit dem Schmarrn angefangen. Hab ihr gesagt, dass es schön ist, wo sie jetzt ist, und so warm, und dass es ihr sehr gut geht. Die Frau Stemmerle ist dann mit einem Lächeln auf den Lippen eingeschlafen, und das hatte sie noch immer, als ich sie morgens geweckt hab.
Noch am selben Abend, grad als ich meine Nachtschichtantrete und in mein weißes Kittelchen schlüpfe, steht die Walrika im Türrahmen und sagt, ich soll zur Frau Dr. Redlich kommen. Und zwar umgehend. Ich war bei der noch kaum zur Tür drin, da hat sie mich angekeift, was ich mir überhaupt einbilde. Wie ich dazu käme, der Stemmerle zu erzählen, ihre Enkelin wär im Zimmer und würde mit ihr reden. Meine Aufgabe hier wäre es, Milchtee zu verteilen und mein blödes Maul zu halten (so hat sie es natürlich nicht gesagt, aber der Sinn ist identisch). Und dass es einzig und allein ihre Scheißaufgabe ist, die Gäste psychologisch zu betreuen. Na, wenn ich mal bedenke, dass die Frau Stemmerle seit Jahren hier rumhockt und psychologisch betreut wird und es der Redlich in der ganzen Zeit nicht möglich ist, ein winziges Lächeln rauszuquetschen, dann ist doch der Erfolg der Betreuung zumindest infrage zu stellen, oder, Hannes? Egal. Vermutlich habe ich mit meiner Aktion keine Pluspunkte gesammelt, werde kein Fleißbildchen erhalten und kann froh sein, nicht in der Ecke stehen zu müssen.
Hab die Walrika noch darauf angesprochen (in der Raucherpause), und die hat dann gesagt, dass die Frau Stemmerle auf jedes »Guten Tag« oder »Ein schöner Tag heute, nicht wahr?«, immer geantwortet hätte: »Es gibt keine schönen Tage mehr, schon sehr lange nicht«, und das seit vielen, vielen Jahren. »Sie haben die Stemmerle zum Lachen gebracht, das soll die Redlich in Gottes Namen erst mal nachmachen!«, hat sie am Schluss noch gesagt.
Hab übrigens herausgefunden, dass die Walrika jeden Tag nur eine einzige Zigarette raucht, und das macht sie abhängigvon meiner Schicht. Wenn ich Frühschicht habe, raucht sie mittags eine, wenn die Insassen ein Schläfchen machen. Hab ich Nachtschicht, holt sie mich kurz vor zehn, bevor sie sich zurückzieht, auf den Balkon raus. Irgendwie macht mich das schon stolz, dass sie gerne mit mir zusammen eine rauchen geht. So, das war nun meine Insassengeschichte, hab sie dir auch erzählt, du hast aber nicht reagiert.
Übrigens hab ich tatsächlich
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