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Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising

Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising

Titel: Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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Fernglas an die Augen. Durch das Fenster konnte er erkennen, dass die italienische Zimmerdecke seiner Mutter mit stalinistischer Tünche überstrichen worden war, um die gemalten Figuren der bourgeoisen religiösen Mythen zu verdecken. Wenig später erschien der Heimleiter persönlich mit einem Glas in der Hand am Fenster. Er hatte zugenommen und hielt sich leicht vornübergebeugt. Der Oberaufseher näherte sich ihm von hinten und legte eine Hand auf seine Schulter. Der Heimleiter wandte sich vom Fenster ab, und wenige Augenblicke später ging das Licht aus.
    Wolkenfetzen trieben am Mond vorbei, und ihre Schatten kletterten über die Zinnen, glitten über das Dach. Hannibal wartete noch eine halbe Stunde. Dann huschte er im Schutz eines Wolkenschattens über das offene Gelände auf den Stall zu. Er konnte das große Zugpferd im Dunkeln leise schnarchen hören.
    Als Hannibal den Stall betrat, wurde Cesar sofort wach und schnaubte, und seine Ohren drehten sich nach hinten, um zu lauschen. Hannibal blies ihm in die Nüstern und rieb seinen Hals.
    »Aufwachen, Cesar«, flüsterte er dem alten Zugpferd zu. Cesars Ohr zuckte über Hannibals Gesicht. Er musste sich den Finger unter die Nase halten, um ein Niesen zu unterdrücken. Hannibal beschirmte das Licht seiner Taschenlampe mit der Hand und untersuchte das Pferd. Cesar war ordentlich gebürstet, und seine Hufe machten einen guten Eindruck. Der Hengst musste jetzt dreizehn Jahre alt sein, denn er war auf die Welt gekommen, als Hannibal fünf war. »Du hast höchstens hundert Kilo zugenommen«, sagte Hannibal. Das Pferd versetzte ihm einen freundlichen Stups mit der Nase, und er konnte gerade noch das Gleichgewicht halten, um nicht gegen die Seite der Box zu fallen. Er legte Cesar Zaumzeug, Kummet und Zuggeschirr an und zog die Zugriemen fest. Als er ihm einen Futterbeutel mit Hafer ans Geschirr hängte, wendete das Pferd den Kopf, um sofort an den Hafersack zu kommen, Hannibal ging in den Schuppen, in dem er als Dreizehnjähriger vom Oberaufseher eingesperrt worden war, und holte eine Rolle Seil, Werkzeug und eine Laterne heraus.
    Nirgendwo in der Burg brannte Licht. Hannibal führte das Pferd vom knirschenden Kies auf weicheren Untergrund und machte sich mit ihm auf den Weg zum Wald und zu den Hörnern des Monds.
    Aus der Burg ertönte kein Alarm. Doch Feldwebel Svenka, der oben auf dem Westturm Wache hielt, griff nach dem Hörer des Funkgeräts, das er die zweihundert Stufen hinaufgeschleppt hatte.

43

    Am Waldrand hatte man einen großen Baum so gefällt, dass er quer über den Weg zu liegen gekommen war. Auf dem Schild, das daran festgenagelt war, stand auf Russisch: »Betreten verboten, Blindgänger«.
    Hannibal musste das Pferd um den gefällten Baum herum in den Wald seiner Kindheit führen. Durch das Dach der Bäume fiel fahles Mondlicht und warf Flecken aus Grau auf den überwucherten Weg. Cesar passte im Dunkeln genau auf, wohin er seine Hufe setzte. Erst als sie ein gutes Stück im Wald waren, zündete Hannibal die Laterne an. Er ging voraus, und die tellergroßen Hufe des Zugpferds folgten dem Rand des Laternenlichts. Neben dem Waldweg ragte die Kugel eines menschlichen Oberschenkelknochens aus dem Boden wie ein Pilz.
    Manchmal sprach Hannibal mit dem Pferd. »Wie viele Sommer hast du uns in der Kutsche diesen Weg entlanggezogen, Cesar? Mischa und mich und Nana und Herrn Jakov?«
    Nachdem sie sich drei Stunden durch brusthohes Unterholz gekämpft hatten, erreichten sie den Rand der Lichtung.
    Das Jagdhaus stand noch, so viel war sicher. Es erschien ihm nicht kleiner als in seiner Erinnerung. Das Jagdhaus war nicht flach und zweidimensional wie die Burg; es ragte genauso hoch empor, wie es das auch in seinen Träumen immer tat. Bevor er die Lichtung betrat, blieb Hannibal stehen und schaute. Hier kräuselten sich Mischas Papierpuppen noch im Feuer. Das Jagdhaus war halb niedergebrannt, ein Teil des Dachs eingestürzt, sein vollständiger Einsturz wurde durch die Steinmauern verhindert. Auf der Lichtung wuchsen Unkraut und mannshohe Büsche.
    Der ausgebrannte Panzer vor dem Jagdhaus war von Pflanzen überwuchert, von seinem Geschütz hing eine blühende Ranke, und das Heck des Sturzkampfbombers ragte aus dem hohen Gras wie ein Segel. Keinerlei Trampelpfade durchzogen das Gras. Die Bohnenstangen im Gemüsegarten ragten über das wuchernde Unkraut hinaus.

    Dort, im Gemüsegarten, hatte Nana Mischas Badewanne immer aufgestellt, und wenn die Sonne das Wasser

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