Hannibal Lector 04 - Hannibal Rising
bezeugen.«
Zurück in seinem Wagen, saß Dortlich stumm auf dem Rücksitz. Als sie die Radvilaites erreicht hatten, bot ihm Feldwebel Svenka, der am Steuer saß, eine Zigarette an und fragte: »War es sehr schwer für Sie, ihn zu sehen?«
»Ich bin heilfroh, dass ich nicht in seiner Haut stecke«, sagte Dortlich. »Sein bescheuertes Dienstmädchen ... ich sollte ihn besuchen, wenn Bergid in der Kirche ist. In der Kirche, stellen Sie sich das mal vor – sie riskiert, deswegen ins Gefängnis zu kommen. Sie denkt, ich wüsste es nicht. In einem Monat etwa wird mein Vater tot sein. Ich werde ihn in seinen Geburtsort in Schweden überführen lassen. Wir werden im Sarg etwa einen Kubikmeter Platz unter der Leiche haben, reichlich Platz, zwei Meter lang.«
Leutnant Dortlich hatte zwar noch kein eigenes Büro, aber sein Schreibtisch stand im Gemeinschaftsraum der Polizeiwache ganz nah am Ofen, und die Stellung, die man innehatte, fand ihren Ausdruck darin, wie nah man beim Ofen saß. Jetzt, im Frühling, war der Ofen allerdings kalt, und es türmten sich Papiere darauf. Der Schreibkram, der auf Dortlichs Schreibtisch lag, war zu fünfzig Prozent bürokratischer Schwachsinn, den man ohne Weiteres hätte verheizen können. Der Schriftverkehr mit Polizeibehörden und MWD, dem Ministerium für innere Angelegenheiten, im benachbarten Lettland und Polen beschränkte sich auf ein Minimum. Die Polizei in den sowjetischen Satellitenstaaten war wie ein Rad mit Speichen und ohne Felge um den Obersten Sowjet in Moskau gruppiert.
Dies war der Papierkram, den er sich ansehen musste: die telegrafisch übermittelte amtliche Liste aller Ausländer, die sich im Besitz eines Visums für Litauen befanden. Dortlich verglich sie mit dem langen Verzeichnis steckbrieflich gesuchter Krimineller und politisch Verdächtiger. Der achte Visuminhaber von oben war Hannibal Lecter, frischgebackenes Mitglied des Jugendverbands der PGF, der Kommunistischen Partei Frankreichs.
Dortlich fuhr mit seinem Privatwagen, einem Wartburg-Zweitakter, zum staatlichen Telefon- und Telegrafenamt, wo er etwa einmal im Monat zu tun hatte. Er wartete vor dem Eingang, bis er Svenka das Gebäude betreten sah, der seinen Dienst antrat. Wenig später, Svenka hatte seinen Vorgänger abgelöst und die Leitung der Telefonzentrale übernommen, war Dortlich allein in einer Kabine und telefonierte auf einer knackenden, laut rauschenden Amtsleitung mit Frankreich. Für den Fall, dass er abgehört wurde, hatte er ein Gerät zur Messung der Signalstärke an das Telefon angeschlossen und ließ die Anzeigennadel nicht einen Moment aus den Augen.
Im dunklen Keller eines Restaurants in der Nähe von Fontainebleau in Frankreich läutete ein Telefon. Es läutete fünf Minuten lang, bis jemand abnahm.
»Was ist?«
»Ich würde sagen, da sollte jemand dringend schneller ans Telefon gehen, wenn ich hier auf Kohlen sitze, weil ich jeden Moment auffliegen kann.« Dortlich gab sich keine Mühe, seinen Ärger zu verbergen.
»Ihr solltet in Schweden unbedingt schon mal Vorbereitungen treffen, damit Freunde eine Leiche in Empfang nehmen können, die demnächst dorthin überführt wird. Und der Lecter-Junge kommt in seine alte Heimat zurück. Mit einem Studentenvisum, das er über Jugend für einen neuen Kommunismus bekommen hat.«
»Wer?«
»Du weißt genau, wen ich meine. Wir haben bei unserem letzten gemeinsamen Essen darüber gesprochen.« Dortlich warf einen kurzen Blick auf seine Liste. »Zweck seines Besuches: ›Im Auftrag des Volkes die Bibliothek von Burg Lecter katalogisieren‹. Wenn das kein Witz ist – die Russen haben sich mit den Büchern den Arsch abgewischt. Könnte sein, dass wir diesbezüglich etwas unternehmen müssen, und das geht in erster Linie euch an. Du weißt ja, an wen du dich wenden musst.«
41
An der Neris nordwestlich von Vilnius befinden sich die Ruinen eines alten Kohlekraftwerks, des ersten in dieser Region. In glücklicheren Zeiten versorgte es die litauische Hauptstadt sowie mehrere Sägewerke und eine Maschinenfabrik entlang des Flusses in bescheidenem Umfang mit Strom. Es war bei jedem Wetter in Betrieb, da es über eine Schmalspurbahn oder durch Lastkähne mit polnischer Kohle beliefert werden konnte.
Die Luftwaffe zerbombte es in den ersten fünf Tagen des deutschen Einmarsches. Angesichts der Errichtung eines neuen sowjetischen Versorgungsnetzes war es nicht wiederaufgebaut worden.
Die Zufahrt zum Kraftwerk war durch eine quer über die
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