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Hannibal

Hannibal

Titel: Hannibal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Harris
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Assistentin die Laken von den Autopsietischen gezogen. Starling wandte sich um und sah das Ganze als ein einziges Bild, das sie ihr Leben lang begleiten würde. Seite an Seite lagen auf ihren Tischen aus rostfreiem Stahl ein Hirsch und ein Mann. Aus dem Hirschen ragte ein gelber Pfeil auf. Der Pfeilschaft und das Geweih hatten das Laken wie Zeltstangen aufgerichtet. Dem Mann ging ein kürzerer, dickerer gelber Pfeil in Ohrenhöhe quer durch den Kopf. Er trug noch immer eine Kopfbedeckung, eine nach hinten gedrehte Baseballkappe, die ihm durch den Pfeil regelrecht an den Kopf geheftet war. Als Starling ihn ansah, überkam sie ein absurder Lachreiz, den sie allerdings so schnell unterdrückte, daß man ihn für einen Ausdruck der Bestürzung hätte halten können. Die seitliche Lage der beiden Körper, entgegen der anatomischen Position, offenbarte, daß sie beide auf nahezu identische Weise geschlachtet worden waren. Das Nierenstück und die Lende waren zusammen mit den unterhalb des Rückgrats liegenden Filets elegant und mit Finesse entfernt worden. Das Fell eines Hirsches auf rostfreiem Stahl. Sein Kopf durch das Geweih auf dem metallenen Kopfkissenblock erhoben, den Kopf gedreht und das Auge weiß, so als wollte er auf den hellen Pfeilschaft blicken, der ihn getötet hatte - die Kreatur, auf der Seite in ihrem eigenen Spiegelbild liegend, an diesem Ort obsessiver Ordnung, erschien wilder und dem Menschen um einiges fremder, als je ein Hirsch in den Wäldern es sein könnte. Die Augen des Mannes standen offen. Ein wenig Blut war über den Tränenkanal ausgetreten. »Seltsam, die beiden zusammen zu sehen«, sagte Dr. Hollingsworth. »Ihre Herzen wogen exakt das gleiche.« Er schaute Starling an und sah, daß sie in Ordnung war. »Einen Unterschied weist der Mann allerdings auf. Wie Sie sehen, wurden die falschen Rippen vom Rückgrat getrennt und die Lungenflügel nach hinten gezogen. Sehen fast aus wie Flügel, oder?« »Blutiger Adler«, murmelte Starling nach einem Augenblick des Nachdenkens. »Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen.« »Geht mir ähnlich«, sagte Starling. »Dafür gibt es einen Begriff? Wie haben Sie das eben genannt?« »Blutiger Adler. Ist in der Literatur in Quantico nachgewiesen. Ein norwegischer Opferritus. Man hackt die falschen Rippen durch, zieht die Lungen auf der Rückseite heraus und glättet sie wie Flügel. Es gab mal einen Neo-Wikinger, der das in den dreißiger Jahren in Minnesota gemacht hat.« »Sie sehen so etwas oft? Ich meine nicht das dort drüben, sondern diese Art von Wahnsinn.« »Kommt schon hin und wieder vor, ja.« »Für mich fällt es aus dem Rahmen des Üblichen. Wir haben hier in der Regel redliche Mordgeschichten - Leute, die erschossen oder erstochen wurden. Aber wollen Sie trotzdem wissen, was ich denke?« »Nichts lieber als das, Doktor.« »Ich glaube, daß der Mann, laut Ausweis heißt er Donnie Barber, den Hirsch gestern illegal getötet hat, einen Tag bevor die Jagdsaison eröffnet wurde. Ich weiß, daß der Hirsch zu genau diesem Zeitpunkt starb. Der Pfeil stimmt mit dem Rest seiner Jagdausrüstung überein. Er hat das Tier in aller Eile geschlachtet. Ich habe die Antigene in dem Blut an seiner Hand noch nicht bestimmt, aber es scheint mir Hirschblut zu sein. Er war gerade dabei, das zu machen, was die Hirschjäger zerwirken nennen. Ziemlich lausig übrigens. Sehen Sie diesen kurzen, ausgefransten Schnitt hier? Dann erlebte er eine riesengroße Überraschung, als ihm dieser Pfeil durch den Schädel fuhr. Die gleiche Farbe, aber eine andere Art von Pfeil. Keine Kerbe am Pfeilende. Wissen Sie, was das für ein Pfeil ist?« »Sieht für mich aus wie ein Armbrustpfeil mit Jagdspitze«, sagte Starling. »Eine zweite Person, möglicherweise derjenige mit der Armbrust, führte das Zerwirken zu Ende. Er machte seine Sache wesentlich besser, und dann, bei Gott, schlug er den Mann aus der Decke. Schauen Sie nur, wie präzise die Haut hier zurückgezogen worden ist, wie entschlossen die Schnitte geführt worden sind. Nichts ruiniert oder vergeudet. Michael DeBakey, der berühmte Herzchirurg, hätte es nicht besser machen können. Es gibt bei keinem von beiden Anzeichen von Geschlechtsverkehr. Beide wurden schlicht und ergreifend geschlachtet.« Starling berührte mit dem Handrücken ihren Mund. Für einen Augenblick dachte der Pathologe, sie würde ein Amulett küssen. »Dr. Hollingsworth, fehlt bei beiden die Leber?« Ein winziges Zögern, bevor er ihr, über

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