Hannibal
stand. Sie sah sich selbst mit fremden Augen, sah die Krähenfüße in ihren Augenwinkeln, die ersten Anzeichen des Alters. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als zu ihrem Wagen zurückzukehren. Ihr nächster Schritt war langsamer, sie hielt inne und hörte ihren Atem. Die Krähe rief, der Wind strich durch die nackten Zweige über ihr, und dann zerriß ein Schrei die Nacht. Ein Schrei, grauenerregend und ohne jede Hoffnung. Er schwoll an, verklang und ging mit einer Stimme, die so zerstört war, daß sie jede Persönlichkeit verloren hatte, in ein Flehen um Erlösung über. »Uccidimi!« Und dann nochmals der Schrei. Der erste Schrei ließ Starling erstarren, der zweite ließ sie in einen Laufschritt verfallen und schneller durch die Dunkelheit waten. Die .45er noch geholstert, hielt sie die ausgeschaltete Taschenlampe in der einen Hand, während sie die andere in die Dunkelheit vor sich streckte. Nein, du tust es nicht, Mason. Nein, du nicht. Beeilung. Beeilung. Sie merkte, daß sie, ihrem Gehör folgend und den losen Schotter auf beiden Seiten spürend, in der Reifenspur bleiben konnte. Der Weg machte eine Biegung und verlief an einem Zaun entlang. Ein guter Zaun, Stahlrohrzaun, sechs Fuß hoch. Schluchzer der Vorahnung und das Flehen, dann baute sich der Schrei wieder auf. Unmittelbar vor Starling, jenseits des Zaunes, bewegte sich etwas im Unterholz, verfiel in Trab, leichter als der Hufschlag eines Pferdes, schneller im Rhythmus. Sie hörte ein Grunzen, das sie erkannte. Näher heran an die gequälten Geräusche, die eindeutig menschlich, aber verzerrt waren und für eine Sekunde von einem einzelnen Quietschen überlagert wurden. Starling begriff, daß sie entweder eine Aufnahme oder eine über Mikrofon verstärkte und vom Feedback verzerrte Stimme hörte. Durch die Bäume schimmerte Licht, und die Umrisse einer Scheune begannen sich vor ihr abzuzeichnen. Starling preßte ihren Kopf auf das kalte Metall, um durch den Zaun zu spähen. Dunkle Gestalten, lang und hüfthoch, rauschten durch das Gebüsch. In knapp vierzig Meter Entfernung war über eine offene Fläche hinweg eine Scheune mit weitgeöffneten großen Toren zu erkennen. Vor der Scheune verlief eine Barriere mit einem Gatter, das in der Mitte geteilt war und sich oben und unten getrennt öffnen ließ. Darüber hing ein großer Zierspiegel. Er reflektierte das aus der Scheune dringende Licht und zeichnete sich als heller Fleck auf dem Boden ab. Auf der Wiese vor der Scheune stand ein untersetzter Mann mit Hut und einem Ghettolaster. Als aus der Maschine eine Serie von Schreien und Schluchzern dröhnte, bedeckte er mit der Hand sein Ohr. Dann brachen sie aus dem Gebüsch, die wilden Schweine mit ihren grimmigen Fratzen, Wölfen gleich in ihrer Geschwindigkeit, langbeinig und mit breiten Brustkästen, struppig, die grauen, stacheligen Borsten aufgestellt. Carlo hastete zum Gatter zurück und schloß es hinter sich, als sie noch dreißig Meter von ihm entfernt waren. Sie hielten an, warteten ab, formierten einen Halbkreis. Durch die großen, geschwungenen Hauer schien es, als fletschten sie dauernd die Zähne. Wie die Abwehrreihe eines Football-Teams, bereit, sich den Ball zu erkämpfen, wogten sie vorwärts, stoppten ab, rempelten sich an, grunzten und knirschten mit den Zähnen. Starling hatte einiges an Viehzeug in ihrem Leben gesehen, aber nichts, was diesen Schweinen hier gleichkam. Sie waren von einer schrecklichen Schönheit, Grazie und Geschwindigkeit. Sie beobachteten das Gatter, drängten sich aneinander, bewegten sich vor und zurück, immer der Barriere zugewandt, die vor der Scheune verlief. Carlo sagte etwas über seine Schulter und verschwand in der Scheune. Der Lieferwagen kam, in der Scheune zurücksetzend, ins Blickfeld. Starling erkannte das graue Fahrzeug sofort. Es hielt schräg vor der Barriere. Cordell stieg aus und öffnete die Schiebetür. Bevor er das Oberlicht ausschaltete, konnte Starling Mason und sein auf der Brust zusammengerolltes Haar mitsamt dem Atemgerät, auf Kissen gebettet, im Wageninneren erkennen. Carlo bückte sich und hob einen Gegenstand auf, den Starling zunächst nicht erkannte. Er sah wie die Füße oder die untere Hälfte eines Körpers aus. Falls es eine Körperhälfte war, mußte Carlo sehr stark sein. Eine Sekunde lang fürchtete Starling, es wären die sterblichen Überreste von Dr. Lecter, aber die Beine wirkten seltsam verkrümmt, waren in einer Weise abgewinkelt, wie es die Gelenke niemals zugelassen
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