Hannibal
einfach vergeudet«, sagte er. »Bei Tagesanbruch werden Sie das Ganze mit anderen Augen sehen. Wissen Sie, ich habe hier auch Stimulanzien, die Sie auf einen Horrortrip schicken können. Und ich werde Sie warten lassen.« Er nahm den Schürhaken aus der Glut. »Ich werde Sie jetzt an den Tropf hängen«, sagte Cordell. »Wann immer Sie Widerstand leisten, werde ich Sie hiermit versengen. Das fühlt sich in etwa so an.« Er berührte mit der glühenden Spitze des Schürhakens Dr. Lecters Brust und röstete dessen Brustwarze durch das Hemd hindurch. Den sich auf der Hemdbrust des Doktors ausbreitenden Feuerkreis mußte er ersticken. Dr. Lecter gab keinen Laut von sich. Carlo fuhr mit dem Gabelstapler rückwärts in die Sattelkammer. Zusammen mit Piero und Carlo hob Cordell den Doktor hoch. Tommaso stand mit dem Betäubungsmittelgewehr allzeit bereit. Sie transportierten Lecter zur Gabel und ketteten ihn mit der Wagendeichsel an die Vorderseite der Maschine. Er wurde, die Beine ausgestreckt und die Arme an die Wagendeichsel gebunden, auf die Gabel gesetzt. Jedes Bein wurde einzeln an einem Zinken befestigt. Cordell legte Dr. Lecter mit Butterfly-Nadeln auf beiden Handrükken eine Infusion. Er mußte sich auf einen Heuballen stellen, um die Plasma-Flaschen zu beiden Seiten der Maschine aufzuhängen. Cordell trat zurück und bewunderte sein Werk. Ein seltsamer Anblick, den Doktor mit ausgebreiteten Armen und einem Tropf an jeder Hand zu sehen, wie eine Parodie auf etwas, das Cordell schon lange aus seinem Gedächtnis verbannt hatte. Cordell machte die Aderpressen mit Fadenschlingen knapp oberhalb der Knie des Doktors mit Schnüren gebrauchsfertig, so daß sie durch den Zaun hindurch zusammengezogen werden konnten. Sie würden verhindern, daß der Doktor verblutete. Jetzt durften sie noch nicht zusammengezogen werden. Mason würde fuchsteufelswild werden, falls Dr. Lecters Füße taub wären. Es war an der Zeit, Mason aus seinem Trakt herunterzuschaffen und in den Van zu hieven. Das Fahrzeug, das hinter der Scheune parkte, war kalt. Die Sarden hatten ihr Essen darin zurückgelassen. Cordell verfluchte sie und warf ihre Kühlbox aus dem Wagen auf den Boden. Er würde das verdammte Ding vor dem Haus aussaugen müssen. Und er mußte es auslüften. Auch das noch, die verdammten Sarden hatten hier drin geraucht, obwohl er es ihnen ausdrücklich untersagt hatte. Der Zigarettenanzünder war herausgerissen. Das Stromkabel für den Monitor des Peilsenders baumelte noch vom Armaturenbrett.
KAPITEL 86
Starling schaltete die Innenraumbeleuchtung des Mustangs aus und löste die Kofferraumverriegelung, bevor sie die Wagentür öffnete. Wenn Dr. Lecter hier war und sie ihn herausholen konnte, vielleicht konnte sie ihn ja dann, an Händen und Füßen gefesselt, in den Kofferraum verfrachten und mit ihm bis zum Bezirksgefängnis kommen. Sie hatte vier Paar Handschellen und genug Leine dabei, um ihm damit die Füße zusammenzubinden und vom Treten abzuhalten. Besser nicht daran denken, wie stark er war. Der Schotter war mit Rauhreif überzogen, als sie die Füße aus dem Wagen schwang. Die Stoßdämpfer, von ihrem Gewicht entlastet, ließen den Mustang leise ächzen. »Mußt du dich auch noch beschweren, du alter Hurensohn«, sagte sie mit leiser Stimme zu dem Wagen. Plötzlich erinnerte sie sich wieder, daß sie zu Hannah, ihrem Pferd, in der Nacht geredet hatte, als sie von dem Schlachten der Lämmer weggeritten war. Sie schloß die Tür nicht ganz. Die Wagenschlüssel wanderten in ihre enge Hosentasche, damit sie nicht klirrten. Die Nacht war sternenklar, und ein Halbmond stand am Himmel. Sie kam ohne Taschenlampe zurecht, solange ein Streifen Nachthimmel über ihr war. Sie probierte, am Rand des Schotterwegs zu gehen. Er war zu locker und uneben. Es würde weniger Lärm machen, wenn sie in einer der ausgefahrenen Reifenspuren lief. Sie blickte mit leicht zur Seite gewandtem Kopf nach vorn, um aus den Augenwinkeln beurteilen zu können, wie der Weg beschaffen war. Ihr war, als watete sie in weicher Dunkelheit. Sie konnte zwar das Knirschen des Schotters unter ihren Füßen hören, nicht aber den Boden sehen. Der schwierigste Moment kam, als sie den Mustang aus der Sicht verlor, dessen Umrisse aber noch immer hinter sich spüren konnte. Sie wollte ihn nicht verlassen. Plötzlich war sie eine dreiunddreißigjährige Frau, die mit einer ruinierten Karriere bei der Polizei und ohne Schrotflinte in der Nacht irgendwo allein in einem Wald
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