Hannibal
motorino auf den Weg in die Stadt. Er war lediglich mit einem Messer, einem Revolver und einer Injektionspistole bewaffnet. Früh am Morgen trat Dr. Hannibal Lecter von der stinkenden, lauten Straße in die Farmacia di Santa Maria Novella ein, einen der wohlriechendsten Orte dieser Welt. Er legte den Kopf in den Nacken und hielt, die Augen geschlossen, einen Moment lang auf der Türschwelle inne und sog den betörenden Duft der Seifen, Lotionen, Cremes und Ingredienzien in den angrenzenden Arbeitsräumen ein. Der Portier war an diesen Kunden gewöhnt. Die Angestellten, die normalerweise den Kunden gegenüber einen gewissen Hochmut an den Tag legten, hatten großen Respekt vor ihm. Die Einkäufe des liebenswürdigen Dr. Fell, die dieser während seiner Monate in Florenz getätigt hatte, beliefen sich zwar auf kaum mehr als hunderttausend Lire, aber er wählte und kombinierte die Duftnoten und Essenzen mit außergewöhnlichem Gespür, was diesen Kaufleuten des Geruchs imponierte, die durch und für die Nase lebten. Um sich dieses Vergnügen zu erhalten, hatte Dr. Lecter seine Nase nicht chirurgisch korrigieren, sondern mit Collagen aufspritzen lassen. Für ihn war die Welt von Gerüchen erfüllt, die so ausgeprägt und lebendig wie Farben in die Luft gemalt waren. Er konnte sie übereinanderschichten und auffächern, als mischte er Farben. Hier gab es nichts, das an Gefängnis erinnerte. Hier war die Luft Musik. Hier gab es die blassen Tränen des Weihrauchs, die darauf warteten, extrahiert zu werden, gelbe Bergamotten, Sandelholz, Zimt und Mimosen zu einem Reigen vereint, der über den Grundtönen aus natürlichem Amber, Zibet, Bibergeil und der Essenz des Moschustiers lag. Dr. Lecter gab sich manchmal der Vorstellung hin, daß er mit seinen Händen, seinen Armen, seinen Wangen riechen könnte, daß Gerüche ihn regelrecht durchfluteten. Daß er mit seinem Gesicht und seinem Herzen riechen könnte. Aus guten, nämlich anatomischen Gründen hält die
Geruchswahrnehmung unser Gedächtnis stärker als jeder andere unserer Sinne wach. Hier, unter dem anheimelnden Licht der Artdeco-Leuchten der Farmacia stehend, überkamen ihn Erinnerungen, und Gedankensplitter wirbelten ihm durch den Kopf. Er atmete und atmete. Hier gab es nichts, das an Gefängnis erinnerte. Nicht doch was war das? Clarice Starling, warum ausgerechnet sie? Nein, nicht wegen des l’Air du Temps, das ihm in die Nase stach, als sie ihre Handtasche nahe den Gittern seiner Zelle in der Anstalt geöffnet hatte. Das war es nicht. Diese Art von Parfüm wurde hier in der Farmacia nicht feilgeboten. Es war auch keine Körperlotion gewesen. Ah. Sapone di mandorle. Die berühmte Mandelseife der Farmacia. Wo hatte er sie gerochen? In Memphis vor seiner Flucht, als sie vor seinem Käfig gestanden und er flüchtig ihre Finger berührt hatte. Starling also. Sauber und vielschichtig in ihren Gerüchen. Baumwolle, an der Sonne getrocknet und gebügelt. Clarice Starling also. Sehr einnehmend und lecker. Langweilig in ihrer Aufrichtigkeit und absurd in ihrer Prinzipientreue. Voller Mutterwitz. Hmmm. Auf der anderen Seite verbanden sich für Dr. Lecter die schlechten Erinnerungen mit unangenehmen Gerüchen, und hier, in der Farmacia, war er wahrscheinlich so weit wie irgend möglich von den stinkenden schwarzen Verliesen seines Gedächtnispalasts entfernt. Ganz gegen seine sonstige Gewohnheit kaufte Dr. Lecter an diesem grauen Freitag eine beträchtliche Menge von Seifen, Lotionen und Badezusätzen. Ein paar nahm er mit, den Rest ließ er die Farmacia verschicken, wobei er die Adreßaufkleber eigenhändig mit seiner eindrucksvoll gestochen scharfen Handschrift ausfüllte. »Wünschen der Herr Doktor, eine Karte beizulegen?« fragte der Angestellte. »Warum nicht?« antwortete Dr. Lecter und legte die zusammengefaltete Zeichnung des Griffons in die Schachtel. Die Farmacia di Santa Maria Novella war an ein Kloster in der Via Scala angebaut, und Carlo, fromm wie immer, nahm seinen Hut ab, um unter der Heiligen Jungfrau Maria in der Nähe des Eingangs auf der Lauer zu liegen. Er hatte bemerkt, daß der Luftdruck beim Öffnen der Innentüren der Eingangshalle die Außentüren ein wenig nachgeben ließ, bevor jemand herauskam. Das gab ihm genügend Zeit, sich neugierigen Blicken zu entziehen und aus einem Versteck herauszuspähen, wenn ein Kunde den Laden verließ. Als Dr. Lecter mit seiner eleganten Mappe auf die Straße trat, stand Carlo gut verborgen hinter einem Stand mit
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