Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
Augapfel, als stäche es in Gelee. Dann machte er dasselbe mit meinem linken Auge.
»Wenn du deine Arbeit als Traumleser beendet hast, werden die Narben von selbst verschwinden«, sagte der Wächter, während er das Messer und das Tellerchen wegräumte. »Das heißt, sie sind sozusagen Erkennungszeichen des Traumlesers. Aber hüte dich vor Tageslicht, solange du diese Zeichen trägst! Mit diesen Augen darfst du nicht in die Sonne sehen, ist das klar? Tust du es trotzdem, folgt die Strafe auf dem Fuß. Das bedeutet für dich, dass du nur abends oder an bewölkten Tagen ausgehen kannst. An sonnigen Tagen musst du das Haus hüten und dein Zimmer möglichst abdunkeln.«
Dann gab er mir eine Brille mit dunklen Gläsern und sagte, dass ich sie außer beim Schlafen ständig tragen müsse.
So verlor ich das Sonnenlicht.
Am Abend eines der nächsten Tage stehe ich schließlich vor den Toren der Bibliothek. Die schwere Holztür knarrt, als ich sie aufdrücke. Dahinter erstreckt sich ein langer, gerader Korridor. Alles ist verstaubt, und die Luft steht, anscheinend schon jahrelang. Die Dielen sind an den typischen Stellen abgelaufen und durchgetreten, die verputzten Wände passend zum Licht der Glühbirnen vergilbt.
Zu beiden Seiten des Korridors befinden sich Türen, die mit Ketten verriegelt sind und auf deren Knäufen sich weißer Staub angesammelt hat. Nur die fragile Milchglastür am Ende des Korridors ist unverriegelt. Man sieht Licht dahinter. Ich klopfe mehrere Male an, bekomme aber keine Antwort. Ich drehe leise den altmodischen Messingknauf; lautlos öffnet sich die Tür nach innen. Es ist niemand zu sehen. Der schlichte leere Raum erinnert an einen zu groß geratenen Bahnhofswartesaal – kein Fenster, nichts, was die Bezeichnung Dekoration verdient hätte. Ein einfacher Tisch, drei Stühle und ein alter gusseiserner Kohleofen, das ist alles. Außerdem noch eine große Standuhr und die Büchertheke. Auf dem Ofen verströmt eine schwarze Kanne, deren Emailüberzug an einigen Stellen abgesprungen ist, weißen Dampf. Hinter der Theke befindet sich eine Milchglastür in der Art der Eingangstür, und auch dahinter sieht man Licht. Ich schwanke, ob ich auch an diese Tür klopfen soll oder besser nicht, und beschließe schließlich, lieber zu warten, bis jemand auftaucht.
Auf der Theke liegen ein paar silbrige Büroklammern herum. Ich nehme eine in die Hand und spiele ein bisschen damit, bis ich mich schließlich auf einen der Stühle am Tisch setze.
Zehn oder fünfzehn Minuten sind vergangen, als die Frau aus der Tür hinter der Theke tritt. In der Hand hält sie eine Papierschere oder so etwas. Sie scheint ein wenig erschrocken zu sein, mich zu sehen, denn augenblicklich röten sich ihre Wangen. »Entschuldigen Sie«, wendet sie sich an mich, »aber ich wusste nicht, dass jemand gekommen ist. Sie hätten anklopfen sollen. Ich war die ganze Zeit im Hinterzimmer und habe aufgeräumt. Da liegt nämlich so viel überflüssiges Zeug herum.«
Wortlos starre ich sie ziemlich lange an. Ihr Gesicht scheint irgendeine Erinnerung in mir wachrufen zu wollen, das fühle ich. Irgendetwas an ihr schüttelt quasi den Bodensatz auf, der auf den Grund meines Bewusstseins gesunken ist. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten hat – alle Worte liegen in ferner Dunkelheit begraben.
»Wie Sie wissen, kommt niemand mehr hierher. Es gibt hier nur ›alte Träume‹, sonst nichts.«
Ich nicke kurz, ohne den Blick von ihrem Gesicht abzuwenden. Ich versuche, irgendetwas darin abzulesen – aus ihren Augen, ihren Lippen, der hohen Stirn und der Linie ihrer schwarzen Haare, die sie hinten zusammengebunden hat, aber je mehr ich in die Details gehe, umso mehr scheint mir ihr Gesamteindruck zu entgleiten, zu verschwimmen. Ich gebe auf und schließe die Augen.
»Verzeihen Sie, aber haben Sie sich nicht vielleicht im Gebäude geirrt? Hier in der Gegend sehen ja alle Häuser gleich aus«, sagt sie und legt die Papierschere neben die Büroklammern auf die Theke. »Nur der Traumleser kann die Bibliothek benutzen und alte Träume lesen. Außer ihm darf niemand dieses Gebäude betreten.«
»Ich bin gekommen, um Träume zu lesen«, sage ich. »So wurde es mir aufgetragen, von der Stadt.«
»Verzeihen Sie, aber könnten Sie die Brille abnehmen?«
Ich nehme die dunkle Brille ab und wende ihr mein Gesicht zu. Sie sieht mir tief in die Augen, in die beiden blass verfärbten Pupillen – die Zeichen des Traumlesers. Mir kommt es vor, als dringe
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