Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
ihr Blick bis in mein tiefstes Inneres.
»Das genügt. Sie können die Brille wieder aufsetzen«, sagt sie. »Möchten Sie einen Kaffee?«
»Ja, bitte«, sage ich.
Sie holt zwei Tassen aus dem hinteren Zimmer, füllt sie mit Kaffee aus der Kanne und setzt sich mir gegenüber.
»Für heute habe ich noch nichts vorbereitet – lassen Sie uns doch morgen mit dem Traumlesen beginnen«, sagt sie. »Ist dieser Raum für Sie in Ordnung? Ich kann Ihnen auch eines der Lesezimmer aufsperren.«
»Nur keine Umstände«, erwidere ich. »Sie werden mir helfen, nicht?«
»Ja. Meine Aufgabe ist es, mich um die alten Träume zu kümmern und dem Traumleser zur Hand zu gehen.«
»Sind wir uns nicht früher schon irgendwo begegnet?«
Sie hebt den Kopf und sieht mich an. Sie scheint in ihrer Erinnerung zu kramen, irgendeinen Anhaltspunkt zu suchen, gibt aber schließlich auf und schüttelt den Kopf. »Wie Sie wissen, sind Erinnerungen in dieser Stadt sehr labil und unsicher. An manches kann man sich erinnern, an anderes nicht. Es tut mir leid, aber an Sie scheine ich mich nicht erinnern zu können.«
»Schon gut«, sage ich. »Nicht so wichtig.«
»Aber ich könnte Sie durchaus schon einmal irgendwo gesehen haben, möglicherweise. Ich lebe schließlich schon immer hier, und die Stadt ist klein.«
»Ich bin aber erst seit ein paar Tagen hier.«
»Ein paar Tage erst?« Sie ist überrascht. »Ja, dann müssen Sie mich mit jemand verwechseln. Ich habe diese Stadt nämlich seit meiner Geburt nicht ein einziges Mal verlassen. Vielleicht meinen Sie jemand, der mir ähnlich sieht?«
»Ja, wahrscheinlich«, sage ich und schlürfe an meinem Kaffee. »So was passiert mir oft. Manchmal glaube ich, dass jeder von uns früher an einem anderen Ort gelebt und ein ganz anderes Leben geführt hat. Und aus irgendwelchen Gründen haben wir das alles vollkommen vergessen und leben jetzt, ohne davon zu wissen. Hatten Sie nicht auch schon einmal diesen Eindruck?«
»Nein«, sagt sie. »Sie denken das vielleicht auch nur, weil Sie Traumleser sind. Ein Traumleser hat eine ganz andere Gedanken- und Gefühlswelt als gewöhnliche Menschen.«
»Mag sein«, sage ich.
»Wissen Sie denn, wo Sie damals gewesen sind und was Sie gemacht haben?«
»Ich kann mich nicht erinnern«, antworte ich. Dann gehe ich zur Theke, nehme eine der Büroklammern in die Hand und besehe sie mir eine Weile. »Aber irgendwas war da, das spüre ich ganz genau. Und auch, dass ich Ihnen dort begegnet bin.«
Die Bibliothek hat eine hohe Decke, es herrscht eine Stille wie auf dem Meeresgrund. Leeren Kopfes, die Büroklammer in der Hand, lasse ich meinen Blick ziellos im Raum umherschweifen. Sie bleibt am Tisch sitzen und trinkt still ihren Kaffee.
»Ich weiß auch nicht genau, warum ich hier bin«, sage ich.
Ich starre an die Decke. Die gelben Lichtpartikel, die von der Glühbirne heruntersegeln, beginnen sich aufzublähen und wieder zusammenzuschrumpfen. Offensichtlich wegen meiner verwundeten Pupillen. Der Wächter hat meine Augen umfunktioniert, damit sie irgendetwas Besonderes zu sehen vermögen. Die große alte Standuhr an der Wand tickt behäbig in die lange Stille hinein.
»Ich muss wohl einen Grund gehabt haben, hierher zu kommen, aber daran kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern«, sage ich.
»Diese Stadt ist sehr ruhig«, sagt sie. »Wenn es Ruhe gewesen ist, was Sie gesucht haben, wird es Ihnen hier bestimmt gefallen.«
»Ja, mag sein«, antworte ich. »Und was soll ich heute hier tun?«
Sie schüttelt den Kopf, steht langsam auf und räumt die beiden leeren Tassen weg. »Heute gibt es hier nichts für Sie zu tun. Lassen Sie uns morgen mit der Arbeit beginnen. Gehen Sie jetzt ruhig nach Hause und ruhen Sie sich aus.«
Ich sehe noch einmal zur Decke und dann in ihr Gesicht. Ganz sicher, ihr Gesicht ist eng mit irgendetwas in meiner Seele verbunden, das spüre ich. Und dass dieses Etwas ganz leise an meine Seele rührt. Ich schließe die Augen und versuche, meine dumpf vernebelte Seele zu durchforsten. Dabei habe ich ein Gefühl, als lege sich die Stille auf meinen Körper wie feiner Staub.
»Ich komme morgen um sechs«, sage ich.
»Auf Wiedersehen«, sagt sie.
Als ich die Bibliothek verlassen habe, lehne ich mich an das Geländer der Alten Brücke, lausche dem Rauschen des Flusses und betrachte die Stadt. Die Tiere sind verschwunden. Alles ist in die blassblaue Dunkelheit des frühen Abends getaucht – der Uhrturm, die Mauer, die die Stadt umschließt, die
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