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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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allerlei militärischen und verbrecherischen Zwecken nutzen. Man würde in rascher Folge lautlose Bomber und stille Gewehre entwickeln, aber auch Bomben, deren Schallexplosion Hirne zerschmettern würde, das systematische Töten per Schall würde immer weiter verfeinert werden. Bestimmt war das dem Alten bewusst, deshalb hielt er seine Forschungsergebnisse wohl zurück, deshalb verzichtete er darauf, sie zu veröffentlichen. Das machte ihn mir noch sympathischer.
    Ich befand mich im fünften oder sechsten Arbeitszyklus, als der Alte zurückkam. Er trug einen großen Korb.
    »Ich habe frischen Kaffee und Sandwiches mitgebracht«, sagte er. »Mit Gurken, Schinken und Käse. Ist Ihnen das recht?«
    »Vielen Dank. Genau nach meinem Geschmack«, sagte ich.
    »Wollen Sie jetzt gleich essen?«
    »Wenn ich mit diesem Zyklus fertig bin.«
    Beim Piepsen der Armbanduhr hatte ich fünf der sieben Zahlenlisten gewaschen. Es war fast geschafft. Ich stand auf, streckte mich ausgiebig und machte mich über die Sandwiches her. In einem Restaurant oder Café hätte man daraus fünf oder sechs Portionen gemacht. Ich aß etwa zwei Drittel davon, allein, schweigend. Bei längerem Zahlenwaschen bekomme ich irgendwie immer enormen Hunger. Ich steckte mir die Sandwiches in der Reihenfolge Schinken – Gurken – Käse in den Mund und spülte mit heißem Kaffee nach.
    In der Zeit, die ich für drei Sandwiches brauchte, aß der Alte eins. Er mochte offenbar Gurken: Er klappte seine Sandwiches auf, bestreute die Gurken bedächtig mit stets der gleichen Menge Salz und aß sie dann auf; dabei knirschte und knackte es leise. Der Sandwich essende Alte machte irgendwie den Eindruck einer Grille mit Tischmanieren.
    »Greifen Sie nur zu, greifen Sie nur zu«, sagte er. »Im Alter nimmt der Appetit ab. Man isst in Maßen, man arbeitet in Maßen. Aber junge Leute müssen ordentlich zulangen. Ordentlich zulangen und ordentlich zunehmen. Zuzunehmen, dick zu werden ist nicht besonders populär, aber ich sage Ihnen, das liegt daran, dass man auf die falsche Weise dick wird. Falsches Dickwerden macht krank und hässlich. Wenn man auf die richtige Weise dick wird, ist das nie der Fall. Man lebt auf, der Geschlechtstrieb nimmt zu, das Hirn arbeitet klar. Jetzt bin ich zwar nur noch ein Strich, aber in meiner Jugend war ich auch dick!« Der Alte lachte breit und dröhnend. »Die Sandwiches sind ziemlich gut, finden Sie nicht?«
    »Sehr gut sogar«, lobte ich. Sie waren wirklich gut. Bei Sandwiches bin ich ebenso kritisch wie bei Sofas, aber diese hier genügten meinen strengen Qualitätsansprüchen ohne weiteres.
    »Meine Enkelin hat sie gemacht, Ihnen zu Ehren!«, sagte der Alte. »Sandwiches sind ihre starke Seite.«
    »Sie schmecken hervorragend. Bessere könnte kein Küchenmeister machen.«
    »Das freut mich. Und die Kleine wird sich auch freuen, das zu hören. Wir bekommen ja selten Besuch, und die Gelegenheit, etwas zuzubereiten und die Meinung eines anderen zu hören, hat sie nie. Sie kocht zwar, aber beim Essen sind wir immer nur zu zweit.«
    »Sie beide leben allein?«, fragte ich.
    »Ja, seit Jahren. Ich habe mich schon lange von der Welt zurückgezogen, das färbt nun auf das Mädchen ab, das macht mir Kummer. Sie geht nie aus. Sie ist gescheit und sehr gesund, aber sie geht nicht unter die Leute. Wenn man jung ist, muss man ausgehen. Der Geschlechtstrieb muss auf gute Weise ausgelebt werden. Das Mädchen ist doch sexuell attraktiv, finden Sie nicht?«
    »Das ist sie, ohne Zweifel«, sagte ich.
    »Der Geschlechtstrieb ist eine gute Energie. Das steht fest. Wenn er kein Ventil hat, wenn man ihn unterdrückt, arbeitet das Hirn nicht mehr klar und man verliert seine körperliche Ausgewogenheit. Das gilt für Männer wie für Frauen. Bei Frauen wird die Menstruation unregelmäßig, und mit unregelmäßiger Menstruation geht psychische Instabilität einher.«
    »Aha«, sagte ich.
    »Die Kleine muss sehr bald mit einem für sie richtigen Mann zusammenkommen. Davon bin ich überzeugt, als Vormund und als Biologe«, sagte der Alte und bestreute sein Gurkensandwich mit Salz.
    »Haben Sie ihr den Ton wieder richtig einstellen können?«, fragte ich zur Abwechslung. Bei der Arbeit wollte ich nicht unbedingt vom Sexualtrieb anderer Leute hören.
    »Ach, das habe ich ja ganz vergessen zu erwähnen«, sagte der Alte. »Aber ja, gewiss, der Ton ist wieder da. Vielen Dank übrigens, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Andernfalls hätte das Mädchen noch

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