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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Alte. »Auditiv zum Beispiel wie eben beim Rauschen des Wassers, aber artikulatorisch löschen kann man auch. Die Artikulation ist individuell gebunden, da besteht die Möglichkeit hundertprozentiger Ausschaltung des Tons.«
    »Wollen Sie diese Ergebnisse veröffentlichen?«
    »Um Himmels willen, nein«, sagte der Alte und winkte ab. »So etwas Interessantes werde ich doch nicht in fremde Hände geben. Das mache ich nur zu meinem Privatvergnügen.« Er lachte wieder sein dröhnendes Lachen. Ich lachte auch.
    »Meine wissenschaftlichen Veröffentlichungen halte ich auf extrem abstraktem Niveau, von den Phonetikern hat so gut wie niemand daran Interesse«, sagte der Alte. »Und der normale wissenschaftliche Dummkopf kann meiner Theorie gar nicht folgen. Außerdem werde ich von der Akademia sowieso nicht ernst genommen.«
    »Die Semioten sind allerdings keine Dummköpfe. Und was das Dekodieren angeht, sind sie Genies. Die lesen Ihre Ergebnisse wie ein offenes Buch.«
    »Da sorge ich vor. Ich veröffentliche in rein hypothetischer Form, ohne Daten, ohne Beschreibung der Vorgehensweise. Das verstehen die nie und nimmer. Die Wissenschaft nimmt mich nicht ernst, aber das macht nichts. In hundert Jahren wird sich die Richtigkeit meiner Theorie bestätigen, das genügt mir.«
    »Nun denn«, sagte ich.
    »Deshalb sollen Sie waschen und shuffeln. Davon hängt alles ab.«
    »Geht in Ordnung«, sagte ich.

    Die nächste Stunde konzentrierte ich mich auf die Berechnungen. Dann folgte wieder eine Pause.
    »Eine Frage noch«, sagte ich.
    »Fragen Sie«, sagte der Alte.
    »Sie betrifft die junge Frau am Eingang. Die etwas rundliche, in einem rosafarbenen Kostüm …«
    »Das ist meine Enkelin«, sagte der Alte. »Ein sehr begabtes Kind, geht mir trotz ihrer jungen Jahre bei meinen Studien zur Hand.«
    »Die Frage, die ich stellen wollte: Ist das Mädchen stumm, oder spricht sie nur so, weil Sie den Ton weggenommen haben …?«
    »Eijeijei«, sagte der Alte und schlug sich mit der flachen Hand aufs Knie. »Das habe ich ja ganz vergessen! Nach dem Experiment den Ton wieder zu normalisieren … Eijeijeijeijei. Ich muss gleich hin und das in Ordnung bringen.«
    »Tun Sie das«, sagte ich.

4  DAS ENDE DER WELT
DIE BIBLIOTHEK
    Das Zentrum der Stadt ist ein halbkreisförmiger Platz nördlich der Alten Brücke. Die andere Hälfte des Halbkreises, das heißt, die untere Kreishälfte, liegt südlich davon, jenseits des Flusses. Die beiden Halbkreise werden Nordplatz und Südplatz genannt und als Teile eines Ganzen verstanden, doch der Eindruck, den sie dem Betrachter vermitteln, ist so verschieden, dass man sie als krasse Gegensätze bezeichnen könnte. Auf dem Nordplatz fühlt man die Schwere einer mysteriösen Atmosphäre, als liefe hier aus allen vier Himmelsrichtungen die Stille der Stadt zusammen. Auf dem Südplatz dagegen gibt es nichts, was man überhaupt spüren könnte. Höchstens ein vages Gefühl absoluten Mangels schwebt darüber. Im Vergleich zur Nordhälfte gibt es hier weniger Wohnhäuser, die Blumenbeete und das Pflaster sind nicht besonders gepflegt.
    In der Mitte des Nordplatzes erhebt sich ein hoher Uhrturm, der sich regelrecht in den Himmel bohrt. Genau genommen kann man ihn gar nicht als Uhrturm bezeichnen, eher als objet in Form eines Uhrturms. Die Zeiger stehen nämlich still, und damit erfüllt er in keinster Weise mehr seine eigentliche Funktion.
    Der Turm ist aus Stein gebaut, viereckig und verjüngt sich nach oben, seine vier Seiten zeigen in die vier Himmelsrichtungen Osten, Westen, Süden und Norden. An der Spitze sind auf allen vier Seiten Zifferblätter angebracht, deren Zeiger jeweils auf zirka zehn Uhr fünfunddreißig stehen und sich keinen Millimeter weiterbewegen. Den kleinen Fenstern nach zu urteilen, die kurz unter den Zifferblättern zu sehen sind, scheint der Turm hohl zu sein, und man hätte eine Leiter oder irgendetwas zum Hinaufsteigen vermutet, doch nirgendwo ist ein Eingang auszumachen. Der Turm ragt derart hoch empor, dass man schon über die Alte Brücke auf die südliche Seite gehen muss, um die Zifferblätter überhaupt lesen zu können.
    Fächerförmig umschließen mehrere Halbkreise von Stein- und Ziegelhäusern den Nordplatz. Kein Gebäude zeigt irgendwelche auffälligen Merkmale – keine Verzierungen, nicht einmal Schilder, alle Fensterläden sind fest verschlossen, und es gibt niemanden, der ein- oder ausgeht. So ähnlich wie ein Postamt ohne Briefe oder eine Zeche ohne Kumpel oder

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