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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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eine Leichenhalle ohne Leiche. Doch seltsamerweise machen diese absolut totenstillen Häuser nicht den Eindruck des Verlassenseins. Jedes Mal, wenn ich an den Häuserreihen vorbeigehe, habe ich vielmehr das Gefühl, als hielten hinter den Mauern um mich herum Menschen, von denen ich keine Ahnung habe, den Atem an und führen heimlich fort, Dinge zu tun, von denen ich noch weniger Ahnung habe.
    In einem dieser stillen Häuserblocks liegt auch die Bibliothek. Nicht, dass sie sich in irgendeiner Weise von den anderen Gebäuden unterscheiden würde, sie ist ein ganz normaler Steinbau. Es gibt absolut nichts, was sie als Bibliothek ausweisen würde, keinerlei äußere Anzeichen. Mit den düster wirkenden, verwitterten alten Steinmauern, dem schmalen Vordach, den eisenvergitterten Fenstern und den massiven Holzläden könnte sie ebenso gut als Getreidespeicher durchgehen.Wenn der Wächter mir nicht einen detaillierten Lageplan gezeichnet hätte, wäre ich wahrscheinlich nie im Leben auf die Idee gekommen, dass es die Bibliothek ist.

    »Sobald du dich eingelebt hast, gehst du in die Bibliothek«, hatte der Wächter am Tag meiner Ankunft gesagt. »Dort hat eine Frau Dienst, der sagst du, dass du von der Stadt den Auftrag bekommen hast, alte Träume zu lesen. Sie wird dir den Rest dann schon beibringen.«
    »Alte Träume?«, wiederholte ich unwillkürlich. »Was soll ich denn darunter verstehen?«
    Der Wächter hielt inne, mit einem kleinen Messer aus einem Stück Holz irgendetwas Rundes – einen Keil oder Holznagel oder so etwas – zu schnitzen, sammelte die auf dem Tisch verstreuten Späne auf und warf sie in den Abfalleimer.
    »Alte Träume sind alte Träume. Die Bibliothek hat Unmengen davon. Es reicht, wenn du dir die genauer anschaust, die dir gefallen.« Der Wächter inspizierte eingehend das fertige runde und spitze Holzstück, war’s zufrieden und legte es auf ein Regal hinter sich. Dort lagen schon ungefähr zwanzig davon.
    »Es steht dir frei, Fragen zu stellen, aber ob ich sie beantworte, steht mir frei«, sagte der Wächter mit hinter dem Kopf verschränkten Händen. »Und es gibt auch ein paar Dinge, auf die ich dir gar keine Antwort geben kann. Du gehst jetzt jedenfalls jeden Tag in die Bibliothek und liest alte Träume. Das ist nämlich deine Arbeit. Du gehst um sechs Uhr abends hin und liest bis zehn oder elf. Die Frau sorgt für dein Abendessen. Mit dem Rest der Zeit kannst du machen, was du willst. Es gibt keinerlei Einschränkungen. Verstanden?«
    »Verstanden«, erwiderte ich. »Diese Arbeit – wie lange habe ich sie zu machen?«
    »Tja, das weiß ich auch nicht. Bis die Zeit gekommen ist, nehme ich an«, sagte der Wächter. Dann zog er aus einem Stapel Holz ein passendes Stück heraus und begann wieder zu schnitzen.
    »Wir sind schließlich ein armes Städtchen und können uns keine Faulenzer leisten. Jeder hat seinen Platz, und jeder macht seine Arbeit. Deine ist, in der Bibliothek alte Träume zu lesen. Du hast doch nicht gedacht, du könntest dir hier einen schönen Lenz machen, oder?«
    »Arbeit ist für mich keine Plage. Auf alle Fälle besser als Nichtstun«, entgegnete ich.
    »Na siehst du«, nickte der Wächter mit Blick auf die Messerspitze. »Je früher du mit der Arbeit beginnst, desto besser. Ab sofort bist du der ›Traumleser‹. Du hast keinen Namen mehr. Der ›Traumleser‹, das ist dein Name. So wie ich der ›Wächter‹ bin.Verstanden?«
    »Verstanden«, sagte ich.
    »Genauso wie es in dieser Stadt nur einen Wächter gibt, gibt es auch nur einen Traumleser. Ein Traumleser muss nämlich als Traumleser zugelassen sein. Ich muss dir die nötige Qualifikation dazu erst erteilen.« Sprach’s und nahm ein flaches weißes Tellerchen aus dem Geschirrschrank, stellte es auf den Tisch und goss Öl hinein, das er dann mit einem Streichholz anzündete. Als Nächstes nahm er ein eigenartig geformtes Messer vom Regal, breitklingig wie ein Buttermesser, und hielt die Spitze zehn Minuten in die Flamme. Dann blies er das Feuer aus und ließ die Klinge abkühlen.
    »Das ist nur, um dich durch ein Zeichen auszuweisen«, sagte der Wächter. »Es tut überhaupt nicht weh, du brauchst also keine Angst zu haben. Es ist im Nu vorbei.«
    Er schob mein rechtes Lid mit dem Finger weit nach oben und stach mit der Messerspitze in meinen Augapfel. Aber es tat, wie der Wächter gesagt hatte, überhaupt nicht weh, und seltsamerweise hatte ich auch keine Angst. Weich und lautlos glitt das Messer in meinen

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