Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
offenbar nicht mehr tragen, Schneeklumpen fallen zu Boden. Ich sehe, wie der Ast zurückschnellt und schwingt.
»Ich hab fast gar kein Gefühl mehr in den Beinen«, sagt der Schatten. »Ich hatte mir fest vorgenommen, mich körperlich fit zu halten, während ich den Kranken spielte, damit ich nicht so abbaue, aber der Raum war zu klein dafür.«
Ich schleife den Schatten hinter mir her durch das Eisentor und zur Wachhütte.Vorsichtshalber hänge ich den Schlüsselbund an seinen Platz zurück. Vielleicht – wenn alles gut ging – würde der Wächter zunächst gar nicht bemerken, dass wir geflohen sind.
»Und jetzt – wohin gehen wir?«, frage ich den Schatten, der zitternd vor dem längst erkalteten Ofen steht.
»Nach Süden, zum See«, sagt er.
»Zum See?«, wiederhole ich unwillkürlich. »Und was gibt es da?«
»Na, den See natürlich, was denn sonst.Wir springen hinein und fliehen. Um diese Jahreszeit werden wir uns aller Voraussicht nach eine Erkältung zuziehen, aber einen luxuriöseren Abgang können wir uns in unserer Lage nicht leisten.«
»Aber in dem See gibt es heftige Strudel, die uns hinunterziehen bis zum Grund. Wenn wir da hineinspringen, sind wir in null Komma nichts tot!«
Der Schatten zittert am ganzen Leibe und hustet ein paar Mal. »Nein, das stimmt nicht. Es gibt nur diesen einen Ausweg aus der Stadt. Ich habe das Problem von vorne und hinten durchdacht und in alle Richtungen gedreht und gewendet. Unser Fluchtweg ist der See im Süden! Einen anderen kann es gar nicht geben. Sicher, deine Furcht ist nicht ganz unbegründet. Aber vertrau mir und lass mich machen, nur dieses eine Mal noch. Ich setze schließlich mein Leben aufs Spiel, und da werd ich den Teufel tun und leichtfertig handeln. Genaueres erklär ich dir auf dem Weg. In einer oder anderthalb Stunden kommt der Wächter zurück. Er wird ziemlich bald entdecken, dass wir abgehauen sind, und uns verfolgen. Wir können es uns nicht leisten, hier herumzutrödeln!«
Draußen vor der Wachhütte ist niemand zu sehen. Im Schnee gibt es nur zwei Fußspuren: meine eigenen, die zur Hütte führen, und die des Wächters, die wegführen, Richtung Tor. Außerdem die Radspuren seines Karrens. Ich nehme den Schatten wieder huckepack. Er ist abgemagert und deshalb ganz leicht geworden; trotzdem bedeutet er eine ziemliche Last für mich, besonders als ich den Hügel hinaufzusteigen beginne. Ob ich in der Lage sein werde, das die weite Strecke durchzuhalten, kann ich selbst noch nicht abschätzen, zumal sich mein Körper an das leichte Leben ohne Schatten gewöhnt hat. »Zum See ist es ziemlich weit.Wir müssen über die Ostseite des Westhügels, dann um den Südhügel herum und zu guter Letzt den Weg durch das Dickicht hinter uns bringen.«
»Denkst du, dass das überhaupt zu machen sein wird?«
»Jetzt sind wir schon so weit gekommen, wir müssen es eben versuchen«, entgegne ich.
Wir machen uns also durch die verschneite Landschaft Richtung Osten auf. Ganz deutlich sind noch die Fußspuren zu sehen, die ich beim Hinweg hinterlassen habe; sie geben mir das Gefühl, an meinem vergangenen Ich vorüberzugehen. Außer meinen eigenen Spuren sind nur noch die zierlichen Hufabdrücke der Tiere zu sehen. Ich blicke zurück; jenseits der Mauer steigt immer noch die Rauchsäule auf. Dick, grau und kerzengerade sieht sie aus wie eine aschfarbene Pagode des Unglücks, deren Spitze von den Wolken verschlungen wird. Ihrer Dicke nach zu urteilen, hat der Wächter heute eine riesige Menge Tiere zu verbrennen. Die Schneemassen, die in der Nacht heruntergekommen sind, haben wohl so viele getötet wie nie zuvor. Es wird zweifellos einige Zeit in Anspruch nehmen, bis er sie alle verbrannt hat, und das bedeutet für uns, dass mit seiner Verfolgung erst viel später als angenommen zu rechnen ist. Mir kommt es so vor, als wollten die Tiere uns durch ihren stillen Tod bei der Flucht helfen.
Auf der anderen Seite jedoch behindert mich der tiefe Schnee. Er setzt sich zwischen den Spikes fest und vereist; meine Füße werden schwer wie Blei, ich rutsche. Warum habe ich bloß nicht daran gedacht, mir Schneeschuhe, Skier oder so etwas zu besorgen, bereue ich im Stillen. In einer Gegend, wo so viel Schnee fällt, muss es so etwas einfach geben. In der Abstellkammer der Wachhütte hätte ich bestimmt etwas Brauchbares finden können, zumal der Wächter dort alle möglichen und unmöglichen Geräte aufbewahrt. Aber jetzt kann ich nicht mehr zur Hütte zurück. Ich bin
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