Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
»Stell ihn irgendwo auf.«
»Auf dem Fernseher wäre ganz nett, oder?«
Ich nahm den lichterlosen Schädel vom Tisch und platzierte ihn auf dem Fernseher, der in der Ecke des Wohnzimmers stand.
»Na, was meinst du?«
»Nicht übel«, sagte ich.
»Ob er noch einmal leuchtet?«
»Bestimmt«, sagte ich. Dann nahm ich sie noch einmal in die Arme und prägte mir ihre Wärme ein.
38 DAS ENDE DER WELT
DIE FLUCHT
In der Morgendämmerung wird das Leuchten der Schädel immer schwächer, verblasst und verschwindet schließlich ganz: Durch das kleine Oberlicht direkt unter der Decke fällt aschfahles Dämmerlicht ein und beginnt, die Wände des Magazins zu bleichen. Das Funkeln und Leuchten verliert nach und nach seine Kraft; ein Lichtstrahl nach dem anderen zieht sich mitsamt seinen Erinnerungen wieder in die tiefe Dunkelheit der Schädel zurück.
Ich lasse meine Fingerspitzen über die Schädel gleiten und ihre Wärme in mich eindringen, bis der allerletzte Schimmer verloschen ist. Ich habe keine Ahnung, welchen Bruchteil von Strahlen ich in dieser Nacht habe lesen können. Die Menge stand in keinem Verhältnis zu der Zeit, die mir zur Verfügung stand. Aber ich habe mich bemüht, nicht an die Zeit zu denken, sondern jeden einzelnen Schädel mit gebührender Sorgfalt und Aufmerksamkeit abzutasten. In jedem Augenblick habe ich dabei ihre Seele mit den Fingerspitzen fühlen können, klar und deutlich. Allein darauf kommt es an, Probleme der Quantität spielen keine Rolle. Die Seele eines Menschen würde sich sowieso nie gänzlich »auslesen« lassen, da könnte man sich noch so anstrengen. Ihre Seele ist da, hier und jetzt, und ich kann sie fühlen, erfassen. Was will ich mehr?
Ich stelle den letzten Schädel aufs Regal zurück, setze mich auf den Boden und lehne mich an die Wand. Durch das Oberlicht hoch über mir kann ich die Wetterlage nicht erkennen, die Lichtverhältnisse versprechen aber nichts als düstere Wolken. Die trübe Dämmerung steht still im Zimmer wie weiche Flüssigkeit, die Schädel sind wieder in ihren tiefen Schlummer versunken. Ich schließe die Augen und lasse mir von der morgendlichen Kälte den Kopf kühlen. Als ich die Hände an die Wangen lege, merke ich, dass meine Finger noch ganz warm sind von den Lichtstrahlen.
Ich bleibe in der Ecke des Magazins sitzen, bis die Stille und die Kälte meine aufgewühlte Seele beruhigt haben. Ich habe kein Gefühl mehr für Zeit, sie kommt mir unzusammenhängend vor, aus dem Lot. Doch solange ich auch sitze, an dem fahlen Licht, das durch das Fenster einfällt, ändert sich nichts, die Schatten bleiben an denselben Stellen. Ich spüre, wie die Seele der Bibliothekarin in mir kreist, sich in meine eigene Identität mischt, wie ich sie mir einverleibe bis in die letzten Winkel meines Ichs. Es wird wohl noch einige Zeit dauern, bis ich mir ein klareres Bild ihrer Seele machen kann. Und noch länger, bis ich sie ihr erzählt haben werde und sie sich wieder in ihr verankert haben wird. Doch wie lange dies auch dauern, wie unvollkommen das Ganze auch bleiben mag – ich bin jetzt in der Lage, ihr die Seele zurückzugeben. Außerdem glaube ich fest daran, dass sie sie aus eigener Kraft wird vervollkommnen können.
Ich stehe auf und verlasse das Magazin. Die Bibliothekarin sitzt allein im Lesesaal am Tisch und wartet auf mich. Das trübe Dämmerlicht lässt ihre Konturen noch flüchtiger und verschwommener erscheinen als sonst. Es war eine lange Nacht für mich, aber auch für sie. Als sie mich sieht, steht sie wortlos auf und stellt die Kanne auf den Ofen. Während der Kaffee warm wird, wasche ich mir über der Spüle im Hinterzimmer die Hände und trockne sie mit dem Handtuch ab. Dann setze ich mich vor den Ofen, um mich aufzuwärmen.
»Na, wie geht’s? Müde?«, fragt sie.
Ich nicke. Ich habe zwölf Stunden ohne Pause durchgelesen, und mein Körper ist schwer wie ein Lehmklumpen; allein den Arm zu heben kostet mich größte Mühe. Doch meine Seele hat die Erschöpfung nicht erreicht. Wie die Bibliothekarin am allerersten Tag sagte, als ich zum Traumlesen hierher kam: Egal, wie erschöpft der Körper ist, auf keinen Fall darf man die Müdigkeit in die Seele dringen lassen.
»Du hättest nach Hause gehen und dich ausruhen sollen«, sage ich. »Du hättest doch nicht hierzubleiben brauchen!«
Sie gießt Kaffee in eine Tasse und gibt sie mir. »Solange du hier bist, bleibe ich auch hier.«
»Ist das Vorschrift?«
»Ja, meine Vorschrift«, sagt sie
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