Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt
lächelnd. »Was du da gelesen hast, ist außerdem meine Seele. Ich kann doch meine Seele nicht einfach irgendwo liegen lassen und weggehen, oder?«
Ich nicke und trinke den Kaffee. Die Zeiger der alten Standuhr stehen auf Viertel nach acht.
»Soll ich Frühstück machen?«
»Ich will nichts essen«, sage ich.
»Aber du hast doch seit gestern nichts mehr zu dir genommen!«
»Ich hab keinen Hunger. Ich will lieber sofort einschlafen. Macht es dir etwas aus, so lange bei mir sitzen zu bleiben und mich um halb drei zu wecken? Ich möchte gerne, dass du meinen Schlaf bewachst. Tust du das für mich?«
»Wenn du es wünschst«, sagt sie, immer noch mit einem Lächeln auf dem Gesicht.
»Es gibt nichts, was ich mir mehr wünschen würde«, sage ich.
Sie holt zwei Decken aus dem hinteren Zimmer und wickelt mich darin ein. Ihr Haar berührt meine Wange, genau wie damals. Ich mache die Augen zu und höre das Knistern der brennenden Kohle. Ihre Hand liegt auf meiner Schulter.
»Wann wird der Winter zu Ende sein?«, frage ich sie.
»Das weiß ich nicht«, antwortet sie. »Niemand weiß, wann der Winter vorüber ist. Aber es dauert sicher nicht mehr allzu lange. Das wird der letzte große Schnee sein.«
Ich strecke die Hand aus und lege meine Finger auf ihre Wange. Sie schließt die Augen und genießt eine Weile die Wärme.
»Das ist meine Wärme, nicht wahr, mein Licht?«
»Wie fühlt es sich an?«
»Wie die Frühlingssonne«, sagt sie.
»Ich denke, ich kann dir von deiner Seele erzählen«, sage ich. »Das wird zwar seine Zeit dauern, aber wenn du nur fest daran glaubst, werde ich sie dir irgendwann mitteilen können, ganz bestimmt.«
»Ich weiß«, sagt sie.
Dann legt sie sachte die Hände auf meine Augen. »Schlaf jetzt.«
Ich schlafe ein.
Sie weckt mich genau um halb drei. Ich stehe auf und ziehe Mantel, Schal, Handschuhe und Mütze an. Die ganze Zeit sagt sie nichts und trinkt nur ihren Kaffee. Da ich den Mantel neben den Ofen gehängt habe, ist er inzwischen vollkommen trocken und schön warm.
»Kannst du die Konzertina bitte für mich aufbewahren?«, sage ich.
Sie nickt, nimmt die Konzertina vom Tisch, hält sie eine Weile in Händen, wie um ihr Gewicht abzuschätzen, und legt sie dann wieder an ihren Platz zurück.
»In Ordnung. Ich werde sie hüten wie meinen Augapfel«, sagt sie und nickt.
Draußen fallen nur noch vereinzelte Flocken; der Wind hat sich gelegt. Der heftige Schneesturm des gestrigen Abends scheint sich schon vor einigen Stunden ausgetobt zu haben, doch tief am Himmel hängen immer noch düstere, graue Wolken, die bereits den nächsten großen Schnee ankündigen, der die Stadt heimsuchen wird. Die augenblickliche Ruhe ist nur ein Intermezzo.
Als ich gerade die Westbrücke Richtung Norden überquert habe, sehe ich, wie jenseits der Mauer grauer Rauch aufzusteigen beginnt – wie immer um diese Zeit. Zunächst steigen wie aus Versehen weiße Rauchfetzen auf, die sich aber bald in die dunklen Schwaden riesiger Mengen verbrannten Fleisches verwandeln. Der Wächter ist also im Apfelwäldchen. Ich eile auf die Wachhütte zu und wundere mich selbst über die gestochen scharfen Fußabdrücke, die ich hinterlasse, denn der Schnee reicht mir bis kurz unters Knie. Lautlos und friedlich liegt die Stadt da, als würden alle ihre Geräusche vom Schnee geschluckt. Es weht kein Lüftchen, kein Vögelchen singt. Nur die Spikes meiner Schneestiefel fressen sich mit merkwürdig lautem Hallen in den frisch gefallenen Schnee.
In der Wachhütte herrscht wie immer atemberaubender Mief, niemand ist zu sehen. Das Feuer im Ofen kann erst vor kurzem erloschen sein, die Wärme liegt noch in der Luft. Auf dem Tisch steht dreckiges Geschirr, die Pfeife des Wächters liegt herum; Messer und Beile hängen in Reih und Glied an der Wand und blitzen weiß. Obwohl ich den Rauch gesehen habe, befällt mich in diesem Zimmer plötzlich die Wahnvorstellung, der Wächter könne jeden Augenblick lautlos hinter meinem Rücken auftauchen und mir mit seiner Pranke auf die Schulter hauen. Ich fühle mich, als würden das Bataillon von Messern, der Kessel, die Pfeife und all die anderen Dinge im Raum meinen Verrat im Stillen missbilligen.
Hastig strecke ich die Hand aus und nehme den Schlüsselbund von der Wand – wobei ich aber höllisch aufpasse, die unheimliche Messergarde nicht zu berühren. Die Schlüssel in der Faust, verschwinde ich durch den Hintereingang Richtung Schattenfeld. Blütenweiß und noch von jeglichen
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