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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Fußspuren unberührt liegt es vor mir, nur der schwarze Stamm der Ulme ragt daraus auf. Für einen Augenblick kommt es mir vor wie eine heilige Stätte, die ich unmöglich mit meinen Füßen beflecken kann. Alles wirkt wohlgeordnet, in ausgewogener Ruhe, wie versunken im wohligen Schlaf der Gerechten. Der Wind hat den Schnee mit wunderschönen Mustern verziert; ein paar Ulmenäste haben ihre weiße Last abgeworfen und recken die gebogenen Arme erleichtert in den Himmel; nichts regt sich. Es hat beinahe völlig zu schneien aufgehört. Nur der Wind rauscht ab und zu leise über den Platz. Ich habe das Gefühl, sie werden mir wohl nie vergessen, dass ich ihren kurzen, friedlichen Schlaf mit Füßen getreten habe.
    Aber es gibt jetzt kein Zurück mehr, zum Zaudern bleibt mir keine Zeit. Entschlossen packe ich den Schlüsselbund und stecke mit eisstarren Fingern die vier großen Schlüssel nacheinander ins Schloss. Keiner von ihnen passt. Ich spüre, wie mir unter den Achseln der kalte Schweiß ausbricht. Ich versuche, mich noch einmal daran zu erinnern, wie der Wächter das Tor geöffnet hat. Er hatte diese vier Schlüssel, wie ich jetzt. Nein, es besteht kein Zweifel. Ich habe damals genau gezählt. Einer von diesen vieren muss ins Schloss passen.
    Ich stecke die Schlüssel wieder in die Manteltasche zurück, reibe meine Hände, bis sie warm genug sind, und probiere dann die Schlüssel noch einmal der Reihe nach aus. Der dritte lässt sich problemlos bis zum Anschlag einführen. Mit lautem, trockenem Knacken dreht er sich im Schloss. Auf dem menschenleeren Platz fährt mir der klare, metallene Ton durch Mark und Bein. Der Krach muss überall in der Stadt zu hören gewesen sein. Ich bleibe eine Weile wie versteinert stehen und lausche, die Hand am Schlüssel im Schloss – doch niemand scheint sich zu rühren. Ich kann weder Rufen noch Schritte vernehmen. Schließlich schiebe ich das schwere Eisentor einen Spalt weit auf, schlüpfe hindurch und lasse es möglichst lautlos ins Schloss zurückfallen.
    Der Schnee auf dem Schattenfeld ist weich wie Schaum und verschlingt meine Füße vollkommen. Laut hallt das Knirschen meiner Schritte; es hört sich an, als würde ein riesiges Lebewesen bedächtig seine Beute zwischen den Zähnen zermalmen. Ich überquere den Platz, gehe an der hoch mit Schnee bedeckten Bank vorbei, hinter mir die gerade Linie von Fußabdrücken eines Zweibeiners zurücklassend. Die Ulmenzweige schauen bedrohlich zu mir herab. Von irgendwoher dringt der schrille Ruf eines Vogels an mein Ohr.
    In der Hütte ist es noch kälter als draußen, mir gefriert fast das Blut in den Adern. Ich öffne die Falltür und steige die Leiter hinab.
    Der Schatten sitzt auf seinem Bett und wartet auf mich.
    »Ich dachte schon, du kommst nicht mehr!«, sagt er und atmet dabei weiße Wölkchen aus.
    »Ich hab es doch versprochen, oder? Und ich halte meine Versprechen«, sage ich. »Komm, lass uns schleunigst verschwinden. Der Gestank hier drin ist ja nicht zum Aushalten!«
    »Ich komm die Leiter nicht mehr hoch«, stöhnt der Schatten. »Ich hab’s eben schon versucht – es ging nicht. Sieht so aus, als ob ich doch schlechter dran bin, als ich dachte. Zum Lachen ist das! Da spiele ich die ganze Zeit den Schwächling und merke am Ende gar nicht mehr, wie schlecht es mir wirklich geht. Besonders die Kälte von gestern Nacht scheint mir mächtig in die Knochen gefahren zu sein.«
    »Ich schleppe dich mit hoch.«
    Der Schatten schüttelt den Kopf. »Nein, das nützt alles nichts, wenn ich danach sowieso nicht weiterlaufen kann. Bis zu unserem Schlupfloch schaff ich es nie. Es ist alles aus und vorbei!«
    »Du hast das Ganze angezettelt! Du kannst jetzt unmöglich im allerletzten Moment schlappmachen!«, sage ich. »Ich trage dich – auf meinen Schultern. Egal, was passiert, du wirst hier rauskommen und weiterleben!«
    Der Schatten sieht mich an; seine Augen liegen tief in den Höhlen. »Wenn du das sagst … dann bin ich natürlich dabei«, sagt er. »Aber es wird ganz schöne Knochenarbeit für dich werden, mit mir auf dem Rücken durch den Schnee zu hetzen, das sage ich dir!«
    Ich nicke. »Mit einem netten kleinen Spaziergang hab ich auch nicht gerechnet!«

    Wie einen nassen Sack ziehe ich meinen Schatten die Leiter hoch, lade ihn auf die Schultern und trage ihn über den Platz. Rechts von uns ragt die kalte, schwarze Mauer auf und blickt schweigend uns und unseren Fußspuren nach. Ein Ulmenast kann seine schwere Last

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