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Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt

Titel: Hard-boiled Wonderland und das Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wer weiß wie lange ohne Ton auskommen müssen. Wenn ich mich hier eingegraben habe, tauche ich erst mal eine ganze Weile oben nicht mehr auf. Und lautlos zu leben ist doch recht beschwerlich.«
    »Das ist es wohl«, stimmte ich zu.
    »Das Mädchen pflegt zwar, wie ich eben schon sagte, kaum gesellschaftlichen Verkehr, sodass sie in dieser Hinsicht kaum Unannehmlichkeiten hat, aber am Telefon zum Beispiel gibt es doch Probleme. Ich hatte ein paar Mal von hier angeläutet und mich gewundert, dass niemand an den Apparat ging. Ich muss ja wirklich zerstreut gewesen sein!«
    »Hat sie, wenn sie stumm ist, keine Probleme beim Einkaufen?«
    »Nein, das geht«, sagte der Alte. »Die Welt hat Supermärkte, da kann man einkaufen, ohne ein Wort zu sagen. Sehr bequem. Das Mädchen liebt Supermärkte, sie geht ständig dorthin einkaufen. Eigentlich lebt sie nur zwischen Supermarkt und Büro.«
    »Geht sie nicht nach Hause?«
    »Sie mag das Büro. Es hat Küche und Dusche, man kann da gut wohnen. Nach Hause fährt sie höchstens einmal pro Woche.«
    Ich nickte ohne besonderen Grund und trank einen Schluck Kaffee.
    »Aber dass Sie sich so gut mit ihr haben verständigen können«, sagte der Alte. »Wie haben Sie das gemacht? Per Telepathie etwa?«
    »Per Lippenlesen. Ich habe früher mal einen Kurs an der Volkshochschule belegt. Ich hatte damals nichts anderes zu tun und dachte, es könnte mir vielleicht einmal von Nutzen sein.«
    »Lippenlesen, ah ja, natürlich«, sagte der Alte und nickte ausgiebig. »Das ist eine wirklich nützliche Technik. Ich verstehe auch ein bisschen was davon. Wie wär’s: Wollen wir uns ein wenig stumm unterhalten?«
    »Lieber nicht. Mit Ton ist mir lieber«, sagte ich hastig. Zweimal an einem Tag hätte ich das nicht ertragen.
    »Das Lippenlesen ist natürlich eine äußerst primitive Technik, die allerlei Mängel hat. Im Dunkeln versteht man gar nichts, und man muss dem andern ständig auf den Mund schauen. Aber als Übergangstechnik hat sie ihren Wert. Dass Sie sie erlernt haben, zeugt von Weitblick.«
    »Übergangstechnik?«
    »Ganz recht«, sagte der Alte und nickte wieder. »Ihnen will ich es verraten: In der Welt wird es in Zukunft ohne jeden Zweifel lautlos zugehen.«
    »Lautlos?«, fragte ich unwillkürlich zurück.
    »Ganz recht. Ohne jeden Laut. Für die Evolution des Menschen ist die Stimme nicht nur nicht erforderlich, sondern sie steht ihr im Wege. Über kurz oder lang werden Stimme und Ton verloren gehen.«
    »Meinen Sie damit«, sagte ich, »dass das Zwitschern der Vögel, das Plätschern von Wasser, die Musik und so weiter verschwinden werden?«
    »Genau das meine ich.«
    »Das wird aber öde und einsam werden.«
    »Das ist das Wesen der Evolution. Die Evolution ist immer bitter, und sie ist traurig. Eine vergnügliche Evolution kann es nicht geben«, sagte der Alte, stand auf, ging zum Schreibtisch, entnahm einer der Schubladen einen kleinen Nagelknipser, kam damit wieder zum Sofa und begann, sich die Nägel zu kürzen, zuerst den des rechten Daumens, zuletzt den des linken kleinen Fingers. »Ich bin noch mitten in der Forschung und kann Ihnen deshalb keine Details geben, aber im Großen und Ganzen wird es so verlaufen. Aber lassen Sie bitte kein Wort davon nach außen dringen. Von dem Tag an, an dem die Semioten Wind davon bekommen, wird es schlimm werden.«
    »Keine Sorge. Niemand hütet Geheimnisse besser als wir Kalkulatoren.«
    »Gut, das zu wissen«, sagte der Alte, schabte mit einer Postkarte die auf dem Tisch verstreuten Nagelfragmente zusammen und warf sie in den Papierkorb. Dann nahm er sich ein neues Gurkensandwich, bestreute es mit Salz und ließ es sich schmecken. »Die sind wirklich vortrefflich, das kann man nicht anders sagen.«
    »Kocht Ihre Enkelin auch gut?«, fragte ich.
    »Nein, eigentlich nicht, superb sind nur ihre Sandwiches. Sie kocht nicht schlecht, das nicht, aber ihre Kochkunst ist nichts im Vergleich zu ihren Sandwiches.«
    »Sandwiches bedürfen einer eigenen Begabung«, sagte ich.
    »So ist es«, sagte der Alte. »Genauso ist es. Mir scheint, dass Sie die Kleine wirklich verstehen. Ihnen könnte ich sie ohne weiteres anvertrauen.«
    »Mir?«, fragte ich ein wenig erschrocken. »Nur weil ich ihre Sandwiches gelobt habe?«
    »Schmecken sie Ihnen nicht?«
    »Sie schmecken mir sogar sehr«, sagte ich. Dann stellte ich mir das dicke Mädchen vor, aber nur so weit, dass es mir nicht bei den Berechnungen in die Quere kommen würde. Und dann trank ich einen

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